Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
Vom Netzwerk:
gewaltig vorspringende Kinnlade, den buschigen Schnurrbart, der nur unvollkommen seine Hasenscharte kaschierte, die ihn nuscheln ließ. Der Kaiser: ein unglückseliger Atlas, dem das Gewicht des Globus die Schultern beugte; ein Schmerzensmann. Zum traurigen Anlass trug er seine Paradeuniform – die blaue mit den Goldknöpfen –, auch hatte er sämtliche Orden angelegt. »Meine innigst geliebten Völker«, begann er.

IX.
Ein Brief aus Grusinien
    Anton Wohlleben kam mit seinem schwierigen Patienten nicht voran. Immer wüster, immer schriller – auch: immer quälender – gerieten diesem seine Albträume (brennende Bücher, brennende Gotteshäuser, zersplittertes Glas, das »Kreuz des Antichrist«); wären in den Träumen des Diplomingenieurs Biehlolawek schleimige Ungeheuer in stählernen Kriegsschiffen aus dem All gelandet, es hätte fantastischer nicht sein können. Die Theorie, die Dr. Wohlleben sich über seinen Patienten gebildet hatte, war zwar in sich schlüssig, die psychoanalytische Fachwelt begegnete ihr mit freundlich-abwartendem Interesse – aber leider führte von jener Theorie kein gerader Weg zu einer Kur. (Übrigens auch kein krummer.) Nebenhin bemerkt: seine Theorie ließ eine gewaltige Erklärungslücke offen. Gesetzt nämlich, es gab ein Thanatos-Syndrom, wie Dr. Wohlleben es postulierte – warum war dann nur ein einziger Patient davon betroffen? Wieso zeigte auf der ganzen Welt ausgerechnet Diplom-Ingenieur Biehlolawek einen Todestrieb, das heißt eine Neigung zu Zerstörung, Auflösung und Vernichtung, die sich in wüsten Träumen äußerte? Und woher stammten die Details, mit denen er seine Nachtmahre bebilderte? Die Psychoanalyse stand kopfkratzend vor einem Rätsel. Da erreichte Anton Wohlleben eines sorglosen Tages im Oktober – das Kummergesicht des Kaisers sollte die Bildschirme der Donaumonarchie erst drei Tage später ausfüllen – ein Brief. Die Adresse war in einer altmodisch-schnörkeligen Handschrift auf das Kuvert gesetzt worden; auf den Briefmarken erkannte er das bartlose Antlitz von Michael II ., dem neuen Zaren.
    Dr. Wohlleben, der wieder einmal im Caféhaus saß, riss das Kuvert mit dem Zeigefinger auf, nahm ein paar Bögen dünnes Briefpapier heraus – gottlob waren sie nicht mit der Hand beschrieben worden, sondern kursiv bedruckt. Er begann zu lesen.
    Dr. Gabriel Leviaschwili
    Präsident der psychoanalytischen Vereinigung
    Golovinski Prospekt 221 B
    Kaukasisches Vizekönigreich
    Tiflis, im September 2000
    Lieber Dr. Wohlleben, sehr geehrter Herr Kollege,
    ob Sie sich meiner erinnern? Es ist jetzt ein gutes Vierteljahrhundert her, seit wir einander begegnet sind. Der Anlass war ein Ausflug der psychoanalytischen Vereinigung von Wien ins Salzkammergut. Sie waren noch ein beneidenswert junger Mann, während ich schon damals zu den älteren Semestern gezählt wurde. Heute habe ich 88 Jahre auf dem Buckel, meine Familie bedrängt mich, ich solle mich endlich in den Ruhestand zurückziehen – trotzdem betreue ich immer noch Patienten und versehe mein Amt als Präsident der Psychoanalytiker im Kaukasus. (Sollten Sie sich wundern, warum dieser Brief in einem so perfekten Deutsch abgefasst ist: Meine Enkeltochter Lela studiert hier in Tiflis Germanistik! Sie kann Oden von Hölderlin auswendig, den sie sehr liebt. Lela hat sich bereit erklärt, mein fehlerhaftes, ungrammatisches Deutsch – dem viele Wörter fehlen, die ich aus den Beständen meiner georgischen Muttersprache ergänze – in richtiges Deutsch zu »übersetzen«. Das Ergebnis halten Sie, verehrter Herr Kollege, in den Händen.)
    Erinnern Sie sich jetzt an unseren gemeinsamen Ausflug? An die Fahrt von St. Gilgen über den See nach St. Wolfgang, das Wasser war glatt, die Sonne nicht zu warm? Erinnern Sie sich an den kleinen, schmächtigen, schon damals weißhaarigen Doktor aus Grusinien? Sie haben mir dann bei dem Aufstieg auf den Schafberg, als mir der Atem wegblieb, meinen Rucksack geschleppt. Es hat Ihnen nichts ausgemacht, dass wir weit abgeschlagen hinter den anderen aus der Gruppe zurückblieben: Sie fanden sogar noch die Kraft, mir im Gehen und beim Schleppen das Märchen vom Machandelbaum zu erzählen, eine grausige Geschichte, die ich nicht kannte, aber aus psychoanalytischer Sicht hochbedeutsam fand. (Erinnern Sie sich?) Oben auf dem Schafberg angekommen – der Ausblick auf den glitzernden See zu unseren Füßen war ein Traum –, bestanden Sie darauf, dass ein Teil der Gruppe nicht zu Fuß wieder

Weitere Kostenlose Bücher