Der Komet
absteigt, sondern mit mir zusammen die altmodische Zahnradbahn mit der schwer schnaufenden Dampflok nimmt. Ich bin der Meinung, dass solche scheinbar kleinen Gesten in ihrer Gesamtheit das Geflecht dessen ausmachen, was wir gewöhnlich »Zivilisation« nennen. Sollte ich es damals nicht oder nur ungenügend getan haben, möchte ich Ihnen wenigstens jetzt nachträglich meinen tief empfundenen Dank abstatten. Aber nicht das ist der Grund, warum ich Ihnen heute schreibe.
Lieber Dr. Wohlleben, mit einiger Verspätung, aber doch immerhin noch rechtzeitig, habe ich Ihren Beitrag über den Patienten B. in den »Schriften zur angewandten Seelenkunde« zu Gesicht bekommen. Ihre Spekulationen (Sie fühlen sich durch diesen Ausdruck hoffentlich nicht verletzt?) im Hinblick auf das von Ihnen sogenannte Thanatos-Syndrom habe ich mit gespannter Aufmerksamkeit gelesen. Mein Interesse war kein rein akademisches. Zu denwenigen mir verbliebenen Patienten gehört ein gewisser D.; und D. – ich wähle diesen Buchstaben, weil es der Anfang seines Familiennamens ist – zeigt Symptome, die mit denen Ihres B. zumindest vergleichbar sind. (Vergleichen heißt ja nicht gleichsetzen, im Gegenteil: man kann nur Dinge miteinander vergleichen, die nicht identisch sind.) Ich werde Ihnen den Fall meines Patienten D. gleich ausführlicher schildern. Doch zunächst gestatten Sie mir einen kleinen Ausflug in die grusinische Nationalgeschichte, die zugleich auch die Geschichte unserer Poesie ist. Ohne diesen Ausflug bliebe vieles von dem, was ich Ihnen zu schreiben habe, ganz unverständlich.
Leider ist Lyrik – die sich ihrem Wesen nach kaum zur Übersetzung eignet; eine mögliche Definition für Lyrik wäre sogar: das, was nicht von einer Sprache in die andere gebracht werden kann – immer nur etwas für Eingeweihte. Es handelt sich recht eigentlich um das, was der Engländer als »inside joke« bezeichnet. So kenne ich den Namen Hölderlin nur, weil meine Lela Germanistik studiert; den meisten Grusiniern – sogar jenen, die sich für Poesie interessieren, und das ist eine ganze Menge! – dürfte dieser Name vollkommen unbekannt sein. Und dabei übt Deutschland (um von Österreich-Ungarn zu schweigen) einen globalen kulturellen Einfluss aus: Die ganze Welt spricht deutsch, wir alle haben Lehnwörter aus dem Deutschen übernommen – Grusinien dagegen ist ein Flecken mit einer bedeutenden Geschichte, eine Provinz des Zarenreiches. Kurzum, lieber Dr. Wohlleben, ich will immerhin für möglich halten, dass Sie noch nie von unserem Soselo gehört haben. Dabei übertreibe ich nicht, wenn ich ihn den bedeutendsten grusinischen Dichter des 20. Jahrhunderts nenne. Dass unser Vaterland heute eine sehr weitgehende kulturelle Autonomie genießt, ist vor allem ihm zu verdanken. Statuen und Büsten von Soselo schmücken manchenDorfplatz, stehen vor vielen Rathäusern; hier in Tiflis haben wir einen Prachtboulevard nach ihm benannt.
Was gibt es von ihm zu lesen? Seine »Hirtengesänge«, die »Lieder an den anbrechenden Tag«, ferner die »Sonette für Vera«, einen Zyklus von wunderbaren Liebesgedichten; eine Autobiografie »Wie es war«, in der er auf anrührende Weise seine Kindheit schildert. (Soselo wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Sohn eines Schusters geboren, er war ein Straßenkind und wuchs in bitterer Armut auf. Er wurde sowohl von seiner Mutter als auch von seinem Vater, einem Säufer, geschlagen; von seinem Vater ein bisschen mehr.) Soselos bedeutendstes Werk ist unbestreitbar sein Versepos »Koba und das goldene Vlies«, das er in den späten Dreißigerjahren dichtete. Wie Sie vielleicht wissen, geht die Argonautensage für uns Kaukasier nicht sehr schmeichelhaft aus: Jason und seine Helden suchen Kolchis heim – und was ist Kolchis? der antike Name für Grusinien! –, sie überlisten König Äetes und führen nicht nur das berühmte Widderfell, sondern auch die Königstochter Medea im Triumphzug heim. (Die Griechen behaupten selbstverständlich, Medea habe sich zuvor in Jason verliebt.) Soselo schrieb in »Koba und das goldene Vlies« die Geschichte in melodiösen, zugleich ernsten und ironischen Versen fort: Ein junger Mann aus Kolchis stellt den Räubern nach, heckt mit zwölf Gesellen einen tolldreisten Plan aus, gemeinsam stibitzen sie den Griechen das goldene Vlies unter der Nase weg. Außerdem befreien sie die arme Medea aus den Verliesen von Korinth, sodass nichts Schlimmeres passieren kann. Anschließend kehren
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