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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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alle nach Hause zurück, und Grusinien blüht. Soselo – für uns war er Dichter eines mystischen Nationalgefühls, der nie die Lektionen vergaß, die er einst als Zögling eines Priesterseminars empfangen hatte; je älter er wurde, desto stärker bekannte er sich auch wieder zuseinem christlichen Erbe. Beinahe haben wir ihn für einen Heiligen gehalten.
    Was wussten wir von Soselo? Für die meisten von uns tauchte er kurz vor den Zwanzigerjahren aus Sibirien auf; er war von Nikolai II . dorthin verbannt worden, wie so viele Weltverbesserer, Schwärmer, Demokraten. Nun siedelte er sich zusammen mit Vera, seiner Frau, wieder in Tiflis an. Er war ein vielfach Enttäuschter, wie leicht hätte er vollends verbittern können; stattdessen warf er sich der Poesie in die weit geöffneten Arme. (Schon vor seiner Verbannung hatte er sich als Poet einen Namen gemacht.) Wir wussten, dass er ein Räuber gewesen war, so wie François Villon, der große französische Brigant und Dichter. Wenn uns dies nicht als ehrenrührig erschien, so müssen Sie bedenken, dass das Zarenreich von damals nicht das vergleichsweise abgemilderte, kompromissbereite Zarenreich von heute ist, in dem es eine Duma und verfassungsmäßige Rechte gibt. 1905 hatte sich eine Revolution erhoben, die Nikolai II . zusammenschießen ließ; danach kam es in Russland zu Pogromen, bei uns im Kaukasus schlachteten die Aserbaidschaner die Armenier ab, bis jene genug hatten und blutig extreme Rache übten. Was ich damit sagen möchte: dass auch unser Soselo früher einmal Gewalt geübt hatte, einem Robin Hood oder Wilhelm Tell vergleichbar, erschien uns eher als lässliche Jugendsünde.
    Nun habe ich Sie mit einer politischen Abschweifung gelangweilt. (Es ist leider unerlässlich; all dies zusammen ergibt erst den Hintergrund für den Fall D.) Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang die Frage, ob Wien immer noch von Sozialdemokraten regiert wird, den »Austromarxisten«? Vor einem Vierteljahrhundert, als wir zusammen jenen Ausflug unternahmen, stellten sie, glaube ich, die Mehrheit im Rathaus. Unser Grusinien jedenfalls ist traditionell ein sozialdemokratisches Land, nicht alleinin dieser Hinsicht Skandinavien vergleichbar; nur dass die Sozialdemokraten bei uns »Menschewiki« heißen. Dieses russische Wort bedeutet: Minderheitspartei. (Eine ganz und gar irreführende Bezeichnung, wie so vieles in der Politik irreführend ist; war Ihnen etwa bekannt, dass man Linke in den Vereinigten Staaten von Amerika allen Ernstes »liberals« nennt? Und jene lassen es sich gefallen!) Nun also: Minderheitspartei. Da muss es doch auch, werden Sie sagen, eine Mehrheitspartei geben? Tatsächlich, sie existiert – oder vielmehr: sie hat einmal existiert. Und unser Soselo, das wussten wir, hatte mit jener Mehrheitspartei – die ihren Namen, wie vermerkt, ganz zu Unrecht trug – einst irgendwie, untergründig, in Verbindung gestanden. (Bis 1912 handelte es sich um eine Fraktion der allrussischen Sozialdemokratie, erst danach riss sie sich als eigenständige Partei von ihrem Ursprung los. Im Zarenreich hatten jene »Bolschewiki« nie mehr als ein paar Tausend Mitglieder; ihre Zahl sank beständig, auch deshalb, weil sie von der Ochrana, der Geheimpolizei, unbarmherzig verfolgt wurden. Nach dem Tod ihres ideologischen Kopfes, eines Kleinadeligen namens Lenin, der in Zürich lebte, zerbrach die Mehrheitspartei in winzige Splittergruppen, die einander in 1001 Journalen befehdeten.) Seine Verbindung mit den ominösen »Bolschewiki«, seine kriminellen Machenschaften … verschiedene Tatsachen über Soselo waren uns nicht bekannt. Und nachdem sie bekannt wurden, nicht geheuer. Aber vielleicht wollten wir auch gar nicht so genau Bescheid wissen. (Die »Bolschewiki« vertraten folgendes Konzept: Die Arbeiter seien noch nicht reif, selbst die Herrschaft zu übernehmen und eine »Diktatur des Proletariats« zu begründen; infolgedessen müsse eine verschworene Gruppe von Berufsrevolutionären anstelle der Arbeiter handeln und rücksichtslos die Macht an sich reißen. Vom Standpunkt der Psychoanalyseaus betrachtet handelt es sich hier, wie Sie unschwer erkennen werden, um einen imaginären Kampf der guten Väter und ihrer guten Söhne – Lenin und Genossen – gegen die schlechten Väter und ihre schlechten Söhne – den Zaren und seine Anhänger.)
    Bevor ich fortfahre, muss ich ein Geständnis ablegen: Ich habe den Mann gekannt.
    Ich besuchte Soselo 1953 – im Jahr seines Todes – in

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