Der Komet
verdammt: denn er konnte ja nichts vergessen. Die Zukunft kam Alexej vor wie eine Wüste voller Luftspiegelungen, gefährlicher Schluchten und unermesslicher Einsamkeit. Nichts mehr. Nichts mehr. Von nun an würde nichts mehr kommen. Schwarz spannte die Melancholie ihre Fledermausflügel über ihm aus. Und der drohende Weltuntergang, jener schmutzige Schneeball im All? Ach, der Weltuntergang kümmerte Alexej von Repin nicht.
XII.
Es ist schade drum
Dudu Gottlieb kehrte heim. Es gab auf dem Mond nichts mehr für ihn zu tun. Dudu und seine Kollegen hatten auf den Tag und die Stunde genau berechnet, wann der Komet einschlagen würde (in genau 253 Tagen um 9.03 Uhr in der Frühe), sie kannten auch den Einschlagsort (wie es sich traf: ein bisschen westlich von Wien), und sie hatten mithilfe ihrer Elektronengehirne exakt berechnet, was hinterher geschehen würde: Erdbeben, Seebeben, gewaltige Waldbrände, Rauch- und Staubwolken in der Luft, die monatelang den Tag zur sternlosen Mitternacht verfinstern würden: Eine neue Eiszeit, sogar eine Verschiebung der eurasischen Kontinentalplatte erschien möglich. Es handelte sich um eine Katastrophe von unbegreiflichem Ausmaß – sie ließ sich nur noch mit jener vergleichen, die vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier von ihren Hinterbeinen gerissen und im Schutt der Epochen begraben hatte. Dieses Mal würde mehr als die Hälfte der Arten dahinsiechen, unter ihnen die höheren Säugetiere, also auch sämtliche Angehörigen der Gattung homo sapiens sapiens – Reiche und Arme, Kluge und Dumme, Kaiser und Untertanen, Verliebte und Gleichgültige. Und es gab nichts, was man dagegen tun konnte. Die Erde zog auf ihrer elliptischen Bahn dahin, wie es ihr von den unerbittlichen Gesetzen der Physik vorgeschrieben war. Dasselbe galt für jenen Unstern, der auf krummem Weg aus der Oortschen Wolke zu uns kam: Der schmutzige Klumpen aus Staub, Stein und Eis tat auf den Millimeter genau das, wofür er bestimmt war. Und weil die Bahnen der zweiHimmelskörper über Kreuz lagen, war ihnen nun einmal bestimmt aufeinanderzuprallen.
Der Mondflieger hatte jene circa 385.000 Kilometer, die den Erdtrabanten von unserem Heimatplaneten trennen, schon beinahe zur Gänze hinter sich gebracht. Wenn man aus dem Bordfenster sah, dann erblickte man tiefes Blau, weiße Wirbel und zarte Lehmtöne; gemeinsam wölbten sich diese schönen Farben zu einem gewaltigen Halbrund. Dort, wo der Horizont auf die Schwärze traf, brach sich das Sonnenlicht grünlich in einem schmalen, durchsichtigen Streifen – der Atmosphäre, jenem Gasgemisch, das Leben spendend den Planeten umhüllt. Ein Teil der Erde lag im Schatten, aber dunkel war es dort trotzdem nicht; Dudu konnte Lichterketten ausmachen, die sich zu komplizierten geometrischen Mustern zusammenfügten – das waren Städte, menschliche Behausungen. Die Sterne funkelten kalt auf sie herunter, und die Städte leuchteten warm in den Himmel zurück. Zufällig war heute der erste Tag des neuen Jahres (nach der christlichen Zeitrechnung). Des letzten Jahres, dachte Dudu, das die Welt erleben würde.
Wäre es doch wenigstens kein Komet, sondern ein Meteor gewesen! Gegen einen solchen sausenden Felsbrocken im All hätte die Menschheit sich schon zu wehren gewusst. Allerdings nicht gerade so, wie es in populären Weltraumabenteuerfilmen gezeigt wurde, die in den Wiener Rosenhügelstudios im billigen Dutzend produziert wurden: Da flogen meistens kräftige Burschen und hübsche Mädchen – die bunt aus den Völkerschaften der Monarchie zusammengewürfelt waren – zu dem Meteor hinauf. Die österreich-ungarischen Helden brachten ein paar Dynamitstangen an und sprengten ihn in tausend winzige Splitter. In der etwas weniger dramatischen Wirklichkeit hätte man den stürzenden Felsbrocken mithilfe einer größeren Masse, einer Eisenkugel etwa, ganzlangsam aus seiner Bahn gelockt, bis er gefahrlos an der Erde vorbeigeflogen wäre. Aber bei einem Kometen funktionierte das leider nicht – zu erratisch die Flugbahn, zu gefährlich der Kometenschweif, zu unberechenbar das Annäherungsmanöver. Gegen einen Kometen half eigentlich nichts, als dass man sich der Gnade Gottes empfahl. Der Steuermann der »Titanic«, dachte Dudu Gottlieb müßig, hatte im letzten Augenblick schnell das Ruder herumgedreht, als jener berühmte Eisberg auf spiegelglatter See grau und gezackt ins Sichtfeld schwamm: Was für ein Jammer, dass es auf der Erde kein gewaltiges Steuerrad gab, mit dem man –
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