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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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Tochter, der blondlockige Engel) nicht einschlafen konnte, saß Alexej an ihrem Kinderbett und sang ihr etwas vor: »Guten Abend, gut Nacht«, sang er leise, das ganze Opus 49 Nr. 4 von Johannes Brahms. Alexej hatte eine schöne Stimme (vielleicht das einzige authentisch Russische an ihm), und es gelang ihm tatsächlich, die Kleine mit Tönen in den Schlaf zu wiegen. Aber seine Favoritin blieb doch Eva, ihre kratzbürstige und dunkelhaarige ältere Schwester mit dem griechischen Profil.Dass sie gerade mit Lust ihre Trotzphase auskostete, störte ihn überhaupt nicht; eher schlugen ihm die ausgiebigen Scheltreden aufs Gemüt, mit denen ihre Mutter sie deswegen bedachte.
    Einmal (das vergaß er hinterher nie mehr) hatten Barbara und er den beiden Kindern in ihrem dunklen Zimmer beim Schlafen zugesehen; plötzlich wachte Eva auf, und ohne nachzudenken, ohne das geringste Zögern stand das Kind auf, ging auf Alexej zu, legte die Arme um seine Beine, versteckte das Gesicht zwischen seinen Knien, strahlte ihn dann von unten her an und legte sich wortlos wieder schlafen. – Spätestens hier erhebt sich mit anklagendem Zeigefinger eine moralische Frage: Fühlte Alexej sich denn schuldig, weil er doch mit einer Mutter von zwei Kindern lustvoll ihre Ehe brach? Aber gewiss. Sehr sogar. Ganz grauenhaft. Nur ist das menschliche Gewissen ein eigentümlich Ding: Schuldgefühle machen die Liebe oft erst richtig scharf – so wie Paprika dem Gulasch erst den richtigen Pfiff verleiht. Wenn Alexej gelegentlich das Gewissen biss, so bewahrte ihn dies immerhin vor dem schlimmsten aller Übel: der behäbig das Leben verschnarchenden Langeweile.
    Eine andere Frage: War Alexej bewusst, dass dieses schöne Abenteuer nicht ewig dauern würde, dass ihm im Kalender ein brutal-exakter Termin gesetzt war? Hier verhielt sich Alexej wie ein Lokomotivführer, der unter Volldampf auf eine Schlucht zufährt, während vor seinen Augen die Brücke zusammenbricht: Er trällerte sich eins und schaute nicht hin. Er lebte von einem Tag auf den anderen und dachte lieber nicht an das Unausweichliche. »Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point«, wie Blaise Pascal einst notierte – zu deutsch: Alexejs Herz wusste alles besser als sein Verstand und glaubte ihmdie Wahrheit nicht. Aber der Augenblick der Trennung rückte natürlich trotzdem mit jeder Stunde näher, die den beiden Verliebten vom Stephansdom her schlug.
    Es kam Weihnachten, die Bürger stellten sich Christbäume in ihre guten Stuben (Alexej selbstverständlich nicht, er hatte kein Geld und keine gute Stube). Es kamen die stillen kalten Tage zwischen Weihnachten und Neujahr, die anno 2000 noch stiller und kälter ausfielen als üblich. Es kamen salbungsvolle Reden, die Alexejs Seele nicht erreichten. Es kam die Silvesternacht und mit ihr das Ende. Denn Dudu Gottlieb, der seine Ankunft schon vor etlichen Wochen angekündigt, dann verzögert und abermals verzögert hatte – Dudu Gottlieb würde am ersten Tag des neuen Jahres in den Mondflieger steigen und nach Hause zurückkehren. Dudu wollte die letzten paar Monate, die der alten Erde noch blieben, zu Hause bei seiner Frau und seinen Kindern verbringen. Verständlich, lobenswert und all das, kein Zweifel.
    »Wir werden uns nicht mehr sehen können«, sagte Barbara. »Nicht mehr so oft jedenfalls. Auf keinen Fall mehr auf diese Art. Du verstehst? Zu meinen Matineen bist du natürlich jederzeit herzlich eingeladen. Mein kleiner Tiger.« Und dann sagte sie den schrecklichen Satz: »Wir bleiben doch gute Freunde, oder?«
    Alexej schwieg tapfer. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er war erledigt.
    Barbara Gottlieb schenkte ihnen beiden etwas zum Abschied: Sie hatte Karten für die Fledermaus in der Hofoper besorgt. Und weil sie sich nicht hatte lumpen lassen, saßen Alexej und Barbara in der Silvesternacht also in einer Loge, zu der außer ihnen beiden niemand Zutritt hatte; Alexej trug seinen Maßgeschneiderten, sie hatte ein langes weinrotes Samtkleid an, das ihre dunklen Haare, ihre Olivenhaut, ihre Mittelmeeraugen königlichzur Geltung brachte – es gab keinen Mann, der nach ihr nicht den Kopf verdreht hätte. (Und wenn die Leute sich fragten, wer denn wohl der junge Galan an der Seite der Gottlieb sei – Sie wissen schon, die Dame mit dem literarischen Salon –, so lautete die diplomatisch-offizielle Formel nach wie vor: ein Freund der Familie.) Die Hofoper war an diesem Abend bis auf den hintersten Stehplatz ausverkauft;

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