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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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Schrecken in die Glieder; sie dachte, er habe auf irgendeinem Weg (wie nur, wie?) von ihrer dummen kleinen Affäre erfahren und wünsche nun die Scheidung. Sie war dann beinahe erleichtert, als es nur um den Kometen ging. Aber naturgemäß hatte dieses Gefühl der Erleichterung nicht lange vorgehalten, das Geheimnis lag schwer auf ihrem Herzen. So hatte sie Alexej davon erzählt. Und so kam es, dass er und Barbara über das Verhängnis im Bilde waren, ehe der k. u. k. Hofastronom Seine kaiserliche Majestät in Schönbrunn informierte und ehe die Neue Freie Presse die Nachricht vom drohenden Weltenbrand in einer Schlagzeile herausschrie: Dieses Wissen hatte sie einsam gemacht (selbstverständlich herrschte allerstrengste Schweigepflicht, man wollte schließlich keine allgemeine Panik auslösen), gleichzeitig brachte das Geheimnis sie einander aber auch näher.
    Noch näher als ihre verborgene und verbotene, ihre fiebrig zitternde Verliebtheit? Ja, so merkwürdig das klingt. In den Wochen, nachdem die Botschaft von der unausweichlichen Katastrophe bei ihnen angekommen war, hatten Alexej und Barbara sich ineinander verkrochen; hilflos hatten sie Schutz vor dem Drohenden gesucht, einer in des anderen Umarmung. So hemmungslos wie häufigwaren sie zum Tier mit den zwei bebenden Rücken geworden: abends in den Donau-Auen an einen Baumstamm gelehnt, in einem Hinterhof im XII . Bezirk zur Geisterstunde, bei heruntergelassenen Jalousien auf einem alten Sofa, das in einer Wohnung von Barbaras Freunden stand (zum Glück ahnten jene nichts von ihrem Glück); einmal auch auf einem staubigen Dachboden – aber nie, nie, nie, wirklich: kein einziges Mal in Barbaras Ehebett. Leider war in der Zwischenzeit knurrend das Misstrauen von Alexejs Hauswirtin wach geworden. So konnten sie sich in seine Studentenbude nur dann auf Zehenspitzen wagen, wenn die Luft rein war, die bewusste Hofratswitwe also nicht mit den hundert Augen eines Argus Panoptes hinter ihrer Tür lauerte und spähte: Das kam eher selten vor. (Als aufgeklärte Menschen gebrauchten sie übrigens Qualitätsprodukte der Firma »Fromms«, die sich seit Generationen in jüdischem Familienbesitz befand
Hinweis
; und nur in Fällen von höchst sporadischer Seltenheit, zu denen allerdings ihr vorletztes Mal zählte, ergab die nachträgliche Inspektion ein winziges Leck im Styrol-Butadien-Kautschuk. Barbara hatte das hoffentlich folgenlose Malheur mit dem erschreckt-belustigten Ausruf »Oha!« bedacht.) Den Luxus, eine ganze Nacht miteinander zu verbringen – also buchstäblich miteinander zu schlafen, wie der deutsche Euphemismus für den Liebesakt lautet, um am nächsten Morgen im selben Bett aufzuwachen, dann ausgiebig zu frühstücken, gestärkt wieder in den Federn zu versinken und gleich am Morgen den Tag zum Tanzen zu bringen –, diesen Luxus hatten sie nach jenem seligen und kurzen Wochenende im »Goldenen Hirsch« nie wieder genossen.
    Der Herbst war grau, böse und neblig über Wien hinwegmarschiert, dann brachte der Winter seine Artillerie in Stellung. Unterdessen hatte der Kaiser mit Zustimmungsämtlicher Ministerpräsidenten das Kriegsrecht verhängt; es sollte, wie die Kabarettisten spotteten, »mindestens bis zum Weltuntergang gelten«. Hier und dort waren in der Monarchie ein paar Plünderer erschossen worden (»ohne Anruf«, wie es amtlich hieß, also ohne dass vorher ein Gendarm »Halt« bzw. »Lassen S’ den Blödsinn« geschrien hätte). Der Kaiser hatte die Preise für Lebensmittel festgefroren: Kein Greisler und kein Kolonialwarenhändler sollte sich an der kommenden Apokalypse eine goldene Nase verdienen. Die jüdischen Feiertage waren gekommen und gegangen – Barbara Gottlieb hatte mit ihren Töchtern und Eltern die sefardische Synagoge, den sogenannten Türkischen Tempel in der Zirkusgasse
Hinweis
, besucht –, bald darauf brach auch schon die Vorweihnachtszeit an. Der Christkindlmarkt vor dem Rathaus lockte mit roten Lampions in den Bäumen und hellgelb erleuchteten Buden, als ob alles beim Alten wäre, aber die Kundschaft blieb aus: Die Wiener hatten so kurz vor dem Weltuntergang offenbar keine Zeit für Glühwein, Lebkuchen, heiße Maroni und gut sortierten Kitsch.
    Der Komet stürzte durch die Nachtschwärze des Alls immer näher, aber auf der Erde geschah das eigentliche Unglück: Alexej verliebte sich immer heftiger nicht nur in Barbara – nein, auch ihre Kinder wuchsen ihm immer mehr ans Herz. Einmal, als Susanne (das war die kleinere

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