Der Komet
schon seit sieben Uhr früh!). Er hatte gerade eben einen Peter-Altenberg-Frühstücksteller für 12 Kronen und 50 Heller hinter sich gebracht: eine Melange, einen Orangensaft, ein kleines Rührei, Schinken, Käse, Wurst, Semmeln, Schwarzbrot, Butter, frischen Obstsalat. Nun überlegte Wohlleben, ob er sich von dem eilfertigen Ober mit dem Fliegenbärtchen zur Feier des Tages noch einen Piccolo bringen lassen sollte. Er war übrigens der einzige Gast weit und breit, an diesem Morgen wurde das Central ansonsten nur von Geistern, Unsichtbaren, Schatten frequentiert – aber das störte ihn nicht. Wohlleben verbarg seinen kahl-ovalen Intellektuellenschädel im Pester Lloyd von vorgestern und beschloss, dass er dem Ober auf alle Fälle ein ordentliches Trinkgeld dalassen würde.
Heinrich Grausenburger feierte im Stephansdom eine Messe in der Sprache des Heiligen Römischen Reiches. »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti, amen«, sang er, während der Ministrant, ein blasser, sehr ernsthafter Junge mit Brille, neben ihm vorschriftsmäßig das Weihrauchfass schwang. Die meisten der knarzigen Holzbänke standen an diesem Morgen leer; eigentlich waren nur die alten Weiber gekommen, die sowieso immer in die Kirche gehen (ob draußen gerade die Welt untergeht oder nicht). »Introibo ad altare Dei«, sang der beleibte Kardinal, der sein traditionelles Purpurgewand trug. Zum Altare Gottes will ich treten. Undder Ministrant antwortete ihm im Wechselgesang: »Ad Deum qui laetificat juventutem meam.« Zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf.
Prof. Dr. Adolf Brandeis hatte es sich zu Hause hinter seinem Schreibtisch bequem gemacht und »las ein Blatt Gemore« – das heißt, er studierte einen riesigen Talmudfolianten, der aufgeschlagen vor ihm lag. Nebenan in der Küche hören wir seine Frau rumoren (die Physikerin); sie kochte für beide eine kräftige Kanne Tee; kann es sein, dass sie dabei leise-vergnügt vor sich hin sang? Der Oberrabbiner von Wien an seinem Schreibtisch jedenfalls wiegte sich hin und her, er rückte seine kleine runde Goldbrille auf dem schmalen Nasenrücken zurecht, während er auf Aramäisch intonierte: »Die Baraisa hat festgestellt: Die Mizwe des Schofar und seine Voraussetzungen setzen die Verbote des Schabbes außer Kraft. Dies sind die Worte von Rabban Eliéser. Woher hat Rabban Eliéser dieses Gesetz? Wenn du sagst, er habe es vom Omer und dem Opfer der zwei Brote – das kann nicht sein: denn jedes ist notwendig für den Allerhöchsten, während das Schofar eine persönliche Mizwe ist.« Adolf Brandeisen war völlig ungerührt. Er glaubte bekanntlich nicht an den Weltuntergang.
Und Barbara Gottlieb? Wo war Barbara Gottlieb? Wir sehen sie nicht auf dem Cobenzl; wir sehen sie ganz gewiss nicht unter den Betrunkenen in Grinzing. (Mittlerweile grölten die Leute dort gemütlich: »Der Tod, das muss ein Wiener sein« bzw. »Da Dodd muaß a Weana sään …«) Weder in einer Synagoge noch auch – Gott bewahre! – in einer Kirche lässt Barbara sich blicken; und im Café Central sitzt sie ja auch nicht. Wo ist sie also? Wo finden wir an jenem Dienstagmorgen die Frau, um die sich in dieser Erzählung doch allerhand dreht? Schauen wir von oben auf sie herunter:
Barbaras Haar lag als unordentlich-dunkles Fadenknäuel auf dem weißen Kopfkissen neben ihr. Die Decke hatte sie im Schlaf bis zum Halsansatz hochgezogen. Wir könnten jetzt lügen und behaupten, sie habe gelächelt, die Wahrheit ist jedoch, dass ihre Lippen schlaff offen standen; auch schnarchte sie ziemlich laut. Der Schlaf war ihr von Herzen zu gönnen: Erst vor zwei Stunden war es der Armen endlich gelungen, ihren Pflichten zu entkommen und halb tot ins Bett zu sinken. Mag sein, dass sie träumte, aber ob es ein guter Traum war, der da über Barbara Gottliebs Seele strich, vermögen wir nicht zu sagen; wir können ihr ja nicht in den Kopf hineinschauen. Mit einem letzten Blick auf die Schlafende schleichen wir auf körperlosen Zehenspitzen hinaus, schließen leise die Tür und sehen nach, was nebenan im Salon passiert. Voilà:
Das weite Panoramafenster gab immer noch den Blick auf einen Turm des Stephansdomes frei. Das große Fernrohr war immer noch auf den erbarmungslosen Himmel gerichtet; niemand hatte die zehntausend Bände von Dudu Gottliebs Privatbibliothek durcheinandergebracht; das große Gemälde von Jizchak Levinsohn – der stürzende Engel mit dem verführerisch strahlenden Antlitz – hing an Ort und Stelle. In einer
Weitere Kostenlose Bücher