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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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Ecke des Salons saßen Eva und Susanne auf dem Teppich und spielten. Sie waren ganz absorbiert von ihrem Spiel: einer Holzeisenbahn und einem herrlich schiefen Bau aus bunten Klötzen, der in einer Minute zusammenbrechen würde – nichts hätte sie in diesem Augenblick von ihrer wichtigen Beschäftigung abgelenkt. Ihr Vater tänzelte daneben kreuz und quer über den Parkettboden. Dudu Gottlieb war nicht ganz so ordentlich angezogen, wie wir das von ihm gewöhnt sind: An seinen Füßen trug er nur Socken, und außer den Schaufäden seines kleinen Gebetsmantels hing ihm auch noch das zerknitterte Hemd aus der Hose. Dudu lächelte.Er summte eine Unsinnsmelodie vor sich hin. Er kreiste mit der Eleganz eines Tanzbären um die eigene Achse. Und wenn er zehn Jahre jünger aussah, als seine Jahre zählten, so hatte er sich den Grund dafür an die rechte Brust und über die Schulter gelegt: ein sanftes Wesen, das zahnlos-rosa vor sich hin greinte. Dudu barg den Hinterkopf des Winzlings in der rechten Hand, während er mit der Linken seinen Rücken hielt, den er zugleich sanft kreisend rieb, um die Verdauung des Wesens anzuregen. Der neue Erdenbürger – noch namenlos – war ein wenig zu früh auf die Welt gekommen und gerade einmal zwei Tage alt. Glücklicherweise hatte die Hebamme im Rothschild-Spital ihm attestiert, er sei »rundherum pumperlgesund«. Noch hatte kein Mohel, kein Beschneider, das heilig-blutige Ritual an ihm vollzogen, durch das er in den Abrahamsbund aufgenommen werden würde; doch daran wagte Dudu vorerst kaum zu denken. Er tänzelte mit seinem Winzling durch den Salon und hoffte, dass Gott – der riboine schel oilom, der Herr der Welt – ein Einsehen haben würde.
    Wo aber steckte Alexej von Repin?
    War er seinen Eltern etwa – uns stockt das Herz bei dem bloßen Gedanken – ins zwielichtige Reich der Toten nachgefolgt? Hatte er Gift geschluckt, baumelte er unter einem Ast im Wald: Sreckte er den Lebenden als Gehenkter die Zunge heraus? (So viele begingen in jenen Tagen Selbstmord, weil sie den Weltuntergang nicht miterleben wollten – man könnte sagen: Sie begingen Selbstmord aus Angst vor dem Tod.) Oder anders: Saß Alexej in seiner Studentenbude, nagte er sein eigenes Herz vor Einsamkeit? War er unglücklich, ein Liebeskümmerling bis zuletzt? Keine Sorge, nichts von alledem. Alexej war ganz einfach verreist; er verbrachte diesen Morgen in derUntersteiermark. Um zu erklären, wie es dazu kam, müssen wir allerdings ein bisschen weiter ausholen.
    Alexej war zu dem Begräbnis von André Malek gegangen. Er hatte den Mann nicht gemocht, eher im Gegenteil, indessen gibt es ein Gesetz, das der abendländischen Zivilisation eingeschrieben ist, seit Sophokles seine »Antigone« zu Papier brachte. Dieses Gesetz lautet: Am Grab hört jede Feindschaft auf. Alexej hatte also einer stramm säkularen Begräbniszeremonie beigewohnt, bei der sich übrigens herausstellte, dass Malek auch im Tod ein Unbekannter geblieben war: Kein Mensch wusste, wo er herkam, wie seine Eltern hießen, ob er Geschwister hatte – aber das alles war nicht wichtig. Wichtig war, dass Alexej unter den Trauergästen eine Bekannte erspäht hatte: Ana Dalmatin, die slowenische Dichterin. Sie ging auf ihn zu und begrüßte ihn freundlich; hinterher beschlossen sie, einen Kaffee miteinander trinken zu gehen. Im Café Hawelka stellten sie dann fest, dass sie sich eigentlich aus demselben Grund bei jenem Begräbnis eingefunden hatten. (Auch der schlimmste Staatsverbrecher, der gegen Theben in den Krieg gezogen ist, hat in der »Antigone« des Sophokles ein Recht darauf, dass man ihn anständig unter die Erde bringt.) Bald bemerkten sie, dass sie auch sonst allerhand gemeinsam hatten. Zum Beispiel mochten beide Franz Marc – eher seine frühen Bilder als die abstrakten Werke aus den Fünfzigerjahren. (»Im sanften Geheimnis seiner Tiere ist jede menschliche Bestialität gerichtet«, sagte Ana Dalmatin.) Lange Spaziergänge am Wienfluss und entlang der Donau hatten sich angeschlossen. Noch mehr Caféhausbesuche, während das Jahr sich langsam ins Licht drehte. Bei einem dieser Spaziergänge hatte er dann plötzlich nach ihrer Hand gegriffen. – Jeder Mann weiß, dass es (sozusagen) Frauen auf den ersten und Frauen auf den zweiten Blick gibt. Diesen sind wirauf Anhieb verfallen, in jene dagegen verlieben wir uns nur allmählich. Aber sobald wir eine Frau auf den zweiten Blick erkannt und entdeckt haben, kennt unser Herz kein Zurück mehr.

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