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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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Der erste dumme Eindruck von Ana Dalmatin hatte sie als flachbrüstiges Mädchen mit schiefen Zähnen vor uns hingestellt; nun, auf den zweiten Blick, offenbarte sie sich als eigenwillige Schönheit: lebendig, erotisch, trotzig und zart. Helle Augen, in denen häufig unvermutet Witz aufblitzte. Hohe Wangenknochen. Weiches Haar. Dass Alexej nichts von Lyrik verstand, störte Ana überhaupt nicht, denn sie war ein enorm praktischer Mensch und verstand, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
    Eine Woche vor jenem Dienstag waren sie gemeinsam in die Untersteiermark gefahren – auf den Einödbauernhof, wo Ana Dalmatin aufgewachsen war. Gemeinsam hatten sie die tiefdunklen slowenischen Wälder erforscht; danach hatten sie eingehend einander erforscht. Und so verbrachte der junge Baron von Repin den Weltuntergangstag am einzigen Ort, wo man sich an diesem Termin vernünftigerweise aufhalten sollte: im Bett.
    Damit dies aber nicht eine von jenen Geschichten wird, in denen alles gut ausgeht, muss kurz vor Schluss leider noch gemeldet werden, dass es für Diplom-Ingenieur Anton Biehlolawek und seinen unbekannten Kummerbruder D. im fernen Grusinien eher ungünstig aussah. Die Psychoanalyse packte ihre ideologischen Gerätschaften ein; sie wusste achselzuckend auch keinen Rat mehr. Und so träumten die beiden, immer noch und jede Nacht träumten sie: dass das christliche Abendland in einem (oder zwei oder drei?) Weltkriegen untergegangen sei; dass die Deutschen und Österreicher die Juden irgendanderswohin verschleppt hätten; dass im Zarenreich eine revolutionäre Tyrannei das Land unddie Seelen verwüstet habe. Die beiden Unglücklichen konnten nichts dafür, sie waren ohne Schuld: Aber sie träumten, träumten, träumten – und für diesen Traum gibt es keine Kur.
    In der Sphäre der Wirklichkeit geschah zwischendurch das Folgende: Gerade als die Menschenmenge auf dem Cobenzl die vierte Strophe der Kaiserhymne ausgesungen hatte, zerplatzte der Komet; der schmutzige Schneeball aus dem All zerfiel in eine Myriade von Einzelteilen, die harmlos in der Atmosphäre verglühten. Was sich an diesem Dienstagmorgen ereignete, war also nicht der Weltuntergang, sondern ein kosmisches Feuerwerk. Beinahe banal; beinahe eine enttäuschende Ernüchterung. »’s hot gornischt passiert«, kommentierte der junge Chassid mit den Schläfenlocken erstaunt.
    Selbstverständlich gingen die Interpretationen dessen, was man da im Himmel über Wien gesehen hatte, hinterher schroff auseinander. Die schlichteren Gemüter meinten, Gott habe zwischen seinem unsichtbaren Daumen und Zeigefinder den Unstern zerquetscht, also die Welt durch ein Wunder gerettet. Dies entsprach ja auch dem Versprechen, das Er einst gegenüber Noah abgegeben hatte, dem Urvater der heutigen (nachsintflutlichen) Menschheit: »Niemals mehr will ich alles Leben töten, wie ich es getan«, heißt es in der Bibel. »Solange die Erde steht, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.« (1. Mose 8,22) Die etwas weniger schlichten Gemüter wandten ein, dass Gott es in diesem Fall doch auch sehr viel einfacher hätte haben können: warum, bitte, überhaupt einen Kometen auf Kollisionskurs schicken? Wieso die wüste Drohung mit dem Weltuntergang – und dann die Rettung in der letzten halben Stunde? Und wenn Gott uns damit(wie die schlichten Gemüter nun wieder erklärten) ein Zeichen seiner Existenz geben wollte, so erhob sich doch sofort die Frage: Wozu die Theatralik? Schließlich habe vor dreitausend Jahren eine leise Stimme in einem brennenden Dornbusch vollkommen ausgereicht.
    Die Astronomen und Physiker zückten nun ihre Bleistifte und rechneten die Sache noch einmal im Detail nach. Dabei stießen sie auf einen Umstand, der ihnen zuvor glatt entgangen war: Der Komet passierte auf seinem Weg zu unserem blauen Planeten – und zwar unausweichlich – einen bestimmten Punkt, wo das Schwerefeld der Erde und das Schwerefeld des Mondes ungefähr gleich stark waren. Das bedeutete: Von hier zog dieser, von der anderen Seite zog jener Himmelskörper mit seiner Gravitation an dem Kometen herum – und weil der Unstern ein ziemlicher Brocken war, im Kern aber nicht sehr stabil, hielt er den Kräften nicht stand, die auf ihn einwirkten. Es sah also nur so aus, als sei der Komet zerplatzt; in Wahrheit hatte es ihn buchstäblich zerrissen. Die gewitzteren Gläubigen (unter ihnen der Kardinal und der Oberrabbiner von Wien) wollten nun gerade

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