Der Kommandant und das Mädchen
Jakub, auch nicht um ihn und mich, sondern nur um mich. Ich bin auf mich allein gestellt, und ich treffe die Entscheidung. Oder besser gesagt: Ich habe sie längst getroffen. Plötzlich bedauere ich, so schnell eingewilligt zu haben. Alek hatte mich vor die Wahl gestellt, und ich hätte ablehnen können. Aber etwas an seiner Miene und an seinem Tonfall war anders als sonst gewesen. Eine Art stumme Verzweiflung. Offenbar habe ich als Einzige überhaupt eine Chance, nahe genug an den Mann heranzukommen, um zu tun, was getan werden muss.
Aber dieser Mann ist kein beliebiger Mann, sondern der Kommandant. Ein Nazi. Wieder sehe ich vor meinem geistigen Auge, wie diese Männer Łukasz’ schwangere Mutter erschießen. Ich sehe Łukasz, wie er neben ihr steht, während sie auf dem Pflaster in ihrem eigenen Blut liegt und stirbt. Die Nazis haben sie umgebracht, und sie haben so viele andere umgebracht. Und der Kommandant ist einer von ihnen. Ausgerechnet ihm soll ich Zärtlichkeit vorgaukeln? Mir wird übel, wenn ich mir das nur vorstelle.
Noch während mir diese fürchterlichen Gedanken durch den Kopf gehen, überlege ich gleichzeitig, wie leicht es sein wird, dem Kommandanten näher zu kommen. Seit seiner Rückkehr aus Berlin lässt sich nicht mehr leugnen, wie sehr er sich zu mir hingezogen fühlt. Manchmal überlege ich, ob es mehr ist als rein körperliche Anziehung. Vielleicht empfindet er tatsächlich etwas für mich, auch wenn ich nichts weiter bin als eine – zumindest in seinen Augen – simple Polin.
Bislang habe ich ihn auf Abstand gehalten. Der Kommandant ist ein höflicher Mann, und ich weiß, er wird keine Annäherungsversuche unternehmen, wenn ich nicht damit einverstanden bin. Es wird natürlich seine Zeit dauern, um ihn glauben zu machen, seine Gefühle würden erwidert, aber mit der richtigen Strategie …
Halt!
, ruft eine Stimme in meinem Kopf. Das ist doch Wahnsinn! Schlagartig wird mir klar, was ich da eigentlich vorhabe. Nein, das kann ich nicht machen! Ich beuge mich vor, bis ich im Wasser mein Spiegelbild sehe.
Wer bist du?
, frage ich, aber es kommt keine Antwort. Stattdessen reagiert das Spiegelbild mit einer Gegenfrage:
Was ist wichtiger?
Meine Familie, denke ich sofort. Mein Ehemann und meine Familie. Die Antwort ist unverändert die gleiche.
Vom gegenüberliegenden Ufer ertönt plötzlich eine Sirene und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe auf und erkenne, dass sich ein Stück hinter den am Fluss gelegenen Häuserblocks das Ghetto befindet.
Meine Eltern.
Mit jedem weiteren Tag im Ghetto wird ihre Lage hoffnungsloser, die Chancen auf ein Entkommen schwinden zusehends. Mit jedem Tag werden sie ein wenig schwächer, und die Gefahr wächst, dass sie deportiert werden oder ihnen noch Schlimmeres widerfährt. Jeden Tag sterben Menschen wie meine Eltern, jeden Tag werden Menschen wie sie von den Deutschen erschossen. Darum hat mich Alek um diesen Gefallen gebeten. Er braucht die Informationen, damit die Bewegung versuchen kann, meine Eltern und alle anderen Juden aus dem Ghetto zu holen. Damit wir diese Mörder daran hindern, weiter zu töten. Ich kann das, ich kann helfen.
Auch wenn ich entschlossener bin als noch vor wenigen Minuten, bleiben doch die Zweifel. Wie soll ich den Kommandanten davon überzeugen, dass ich ihn mag? Werde ich in der Lage sein, mit einem Mann wie ihm intim zu werden? Vielleicht muss es ja gar nicht dazu kommen, sage ich mir. Vielleicht stoße ich ja schnell genug auf die gesuchten Informationen, um diesen letzten Schritt nicht gehen zu müssen. Es ist eine Lüge, an die ich unbedingt glauben möchte. Aber ob es so weit kommt oder nicht, ist jetzt nicht von Bedeutung. Mein Entschluss steht fest. Wenn es eine Chance gibt, dass ich durch mein Handeln meiner Familie helfen kann, dann muss ich es versuchen. Jakub wird es nie erfahren. Vielleicht, so überlege ich, entdecke ich sogar etwas, was uns beide schneller wieder zusammenbringt. Trotzig hebe ich mein Kinn an und mache mich auf den Heimweg.
13. KAPITEL
A ls ich am nächsten Morgen zur Wawelburg hinaufgehe, fühle ich mich von meiner Mission gänzlich erfüllt. Es kommt auf jede Sekunde an, hat Alek gesagt. Also gibt es keinen Grund, den Kommandanten noch länger auf Abstand zu halten. Am besten lässt sich mein Vorhaben mit einem Pflaster vergleichen, das besonders fest auf der Haut klebt: Es ist besser, es mit einem einzigen Ruck abzureißen, anstatt es langsam und Stück für Stück zu versuchen. Die Frage
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