Der Kommissar und das Schweigen - Roman
waren, dass sie gemäß der staatlichen Schulgesetzgebung sieben Jahreskurse umfassten.
Von Anfang an hatten Gerüchte über Jellineks Person die Runde gemacht, und es hatte Leserbriefe und Debatten in Zeitungen und dem Lokalradio gegeben. Die Angriffspunkte variierten: es tauchte alles auf – von Gehirnwäsche über Faschismus bis zu Frauenverachtung und Sexismus, und im Dezember 1989 erhob die Mutter eines abgesprungenen Mitglieds – eines siebzehnjährigen Mädchens – Anklage gegen Jellinek wegen Unzucht und sexueller Nötigung.
Der Fall weckte große Aufmerksamkeit und hatte zweifellos das Zeug für die Massenmedien: Zungensprechen. Zwangskasteiung.
Große Versammlungen, bei denen alle Teilnehmer nackt waren und Jellinek kollektiv aus allen Körpern den Teufel austrieb. Mädchen, die auf den nackten Po gepeitscht wurden. Sowie ein Teil anderer Aktivitäten mit starken sexuellen Untertönen. Oder Obertönen. Das Reine Leben wurde in den Zeitschriften mal als Sex-Sekte, mal als Club von Teufelsanbetern beschrieben, und das Ganze endete damit, dass Jellinek für minderschwere Unzucht und Nötigung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde.
Minderschwere Unzucht? dachte der Hauptkommissar und fächerte sich mit einer alten Tageszeitung Luft zu. Gab es tatsächlich eine derartige Straftatsbezeichnung? Er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, jemals darauf gestoßen zu sein.
Im Zusammenhang mit dem Urteil und Jellineks Verschwinden hinter Schloss und Riegel war paradoxerweise ein deutlicher Umschwung in der Volksmeinung zu verzeichnen, wie aus Münsters Papieren zu entnehmen war. Dem gefangen genommenen Priester kam eine gewisse Märtyrerrolle zu, und der Ruf des Reinen Lebens schien – zumindest zeitweise – sich ein wenig aus dem Schmutz zu erheben. Während sie auf die Rückkehr ihres geistigen Führers warteten, tauchten die meisten der Mitglieder unter, aber die Sekte löste sich nicht auf, und überraschend wenige entschieden sich dazu, aus der Gemeinschaft auszutreten.
Nach einem halben Jahr in der Diaspora kehrte schließlich der Hirte zu seiner Herde zurück, und die Aktivitäten wurden, soweit das von außen beurteilt werden konnte, im Großen und Ganzen nach dem gleichen Muster wieder aufgenommen. Irgendwelche Erneuerungen waren kaum zu bemerken, höchstens ein deutlich spürbarer Abstand von der Gesellschaft und dem öffentlichen Leben – die klar erkennbare Zielsetzung, für sich zu bleiben und niemandem, weder Journalisten noch anderen, einen Blick ins Innere zu gewähren. Dennoch wuchs die Mitgliederzahl langsam, aber sicher, sie sollte Mitte der neunziger Jahre ungefähr tausend Personen betragen. Oscar Jellineks
Position als der alleinige geistige Führer war anscheinend nie stärker gewesen.
Was andere Gemeinschaften betraf, so war Das Reine Leben offenbar hundertprozentig kritisch eingestellt; in Jellineks Lehren hatte ein Interesse für Gemeinsamkeit oder ökumenische Fragen nie einen Platz gehabt, und ernsthafte Betrachter bewerteten die Sekte als ein ziemlich promiskuöses und insgesamt sehr zweifelhaftes Unternehmen.
Unter Kluuges Informationen von der Polizei in Stamberg befanden sich auch einige Andeutungen hinsichtlich des so genannten Abtrünnigensyndroms, die besagten, dass frühere Mitglieder auf unterschiedliche Weise schikaniert wurden, nachdem sie die Sekte verlassen hatten. Das Phänomen war in ähnlichen Zusammenhängen nicht unbekannt, aber was Das Reine Leben betraf, so schien es hier vor allem eine Frage von Gerüchten und vereinzelten Notizen in der Lokalpresse zu sein; in keinem Fall hatte es zu einer Anzeige oder einer anderen Form des Eingriffs der Obrigkeit geführt.
Aber dass es viele kritische Stimmen gab, was Oscar Jellinek und seine Gemeinschaft betraf, daran gab es keinen Zweifel. Die allgemeine Auffassung schien jedoch zu sein, dass es sich um eine ziemlich harmlose Gruppe handelte, eine Zusammenkunft schwankender, verwirrter Grübler, die toleriert werden konnte, solange die normalen ehrlichen Bürger von ihr in Ruhe gelassen wurden.
Was man offensichtlich nach Jellineks Entlassung aus dem Gefängnis auch tat. Keine öffentlichen Versammlungen. Keine Anzeigen in Zeitungen oder an anderen Orten. Keine Missionstätigkeit. Die eventuelle Neurekrutierung fand offenbar intern und via verborgener Netzwerke statt.
Aber niemand konnte behaupten, dass er nähere, zuverlässige Einsichten in die Tätigkeiten des Reinen Lebens und seine Ideen
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