Der Kraehenturm
erklärte Franz. »Leg dich hin. Es wird eine lange Nacht werden. Ich werde dich später wecken, um dir dein Pferd zu zeigen.«
»Pferd?«, krächzte Icherios. Er war kein guter Reiter, und diese Geschöpfe jagten ihm Angst ein.
»Ich beabsichtige nicht, dahin zu laufen, Grünschnabel.«
Mit einem flauen Gefühl in der Magengrube zog sich der junge Gelehrte in sein Zimmer zurück.
Als er einige Stunden später aufwachte, erwartete ihn ein klarer, kalter Herbsttag. Die Wolkendecke hatte sich aufgelöst, und blasses Sonnenlicht drang in sein Zimmer. Maleficium lag auf seiner Brust und hatte mit seinem Speichel das Hemd seines Herrn durchweicht.
Gähnend nahm Icherios den Nager und legte ihn aufs Bett, dann stand er auf und wusch sich Hände und Gesicht. Danach teilte er sich einen saftigen Apfel mit Maleficium. Trotz dessen Vorliebe für Fleisch wusste der Nager ab und an ein Stück Obst oder eine Nuss durchaus zu schätzen.
Anschließend fasste er in einem Notizbuch, das er zusammen mit Vallentins Tagebuch und Brief unter einer lockeren Diele verbarg, seine neuesten Erkenntnisse zusammen. Daraufhin holte er ein mächtiges, in Ölzeug eingeschlagenes Buch aus einer Schublade und legte es voller Ehrfurcht auf seinen Schreibtisch. Vorsichtig öffnete er die schützende Umhüllung. Es war sein größter Schatz: das Monstrorum Noctis. Darin enthalten war eine Aufzählung sämtlicher Kreaturen der Nacht und solcher, die aufgrund ihrer Gefährlichkeit als derartige empfunden wurden. Vampire, Werwölfe, Hexen, Harpyien – die Geschichte all dieser Wesen stand in kunstvollen Bildern und Schriften verewigt auf dem dicken Papier. Das Besondere an dem Buch war aber etwas ganz anderes. Es war eine der wenigen unveränderten Kopien des Originals. Icherios hatte zuvor bereits eine Ausgabe des Monstrorum Noctis besessen, doch es war eine Fälschung gewesen; von Vampiren gekürzt und in Umlauf gebracht, um nicht alles Wissen preiszugeben, das ihr Schöpfer Hermes Trismegistos hinterlassen hatte. Jetzt besaß er aber ein echtes, das ihm als Dank für die Aufklärung der Morde in Dornfelde vom dortigen Fürst übergeben worden war.
Icherios hatte gerade einen Abschnitt gelesen, um mehr über Strigoi zu erfahren, als es an die Tür klopfte.
»Es ist an der Zeit, dass du dein Pferd bekommst«, drang Franz’ Stimme zu ihm vor.
Icherios seufzte. Ihm graute es bei dem Gedanken reiten zu müssen. Zudem hatte er Wichtigeres zu tun, als sich mit Spukgeschichten herumzuschlagen. Verärgert schlug er das Buch zu. »Ich komme.« Er nahm Mantel und Hut, setzte Maleficium auf seine Schulter und ging zu Franz hinaus. Dieser warf einen Blick auf den Kastorhut, riss ihn dem jungen Gelehrten aus der Hand und hängte ihn an die Garderobe.
»Den weht es dir nur vom Kopf.« Damit schloss er die Tür und schob Icherios auf die Treppe zu. »Die Stallungen befinden sich im Hof.« Er hielt ihm einen Beutel mit Nüssen und Rosinen hin. »Möchtest du eine?«
»Nein, danke.«
»Du siehst aus, als hättest du reichlich Muffensausen bei dem Gedanken an das Pferd.«
Icherios hob abwehrend die Hände. »Ich reite einfach nicht gerne.«
»Aber du kannst es doch, oder?«
»Sagen wir mal so, es gelingt mir, mich oben zu halten.«
»Das will ich mir lieber anschauen, bevor wir heute Nacht den Neckar entlangreiten. Wen die Strömung einmal in ihren Klauen hat, den lässt sie nicht mehr los.«
»Das haben die meisten Flüsse so an sich.«
»Hier ist es etwas anderes.« Franz runzelte die Stirn. »Irgendetwas scheint die Toten zu verspeisen, bevor sie wieder auftauchen können. Nur selten treibt die Leiche eines Ertrunkenen an das Ufer. Für gewöhnlich verschwinden sie, ohne dass man je wieder von ihnen sieht oder hört.«
Icherios zuckte mit den Schultern. »Vermutlich eine starke Strömung.«
»Wenn du meinst.« Franz klang nicht überzeugt. »Zumindest wirst du dich sicher nicht vor Gismara blamieren wollen.«
»Ist diese Frau immer so schrecklich?«
»Sie mag Männer nicht besonders. Sie braucht einige Zeit, bis sie einem vertraut. Dann ist Gis aber eine entzückende Person.«
»Wenn du meinst.« Diesmal klang Icherios nicht sehr überzeugt.
Der Stall schloss sich an die Rückseite des Tertiums an. Es war ein einfaches, flaches Steingebäude, an das eine kleine, umzäunte Grünfläche angrenzte.
»Wer kümmert sich um die Tiere?«
»Ein Bursche aus der Nachbarschaft ist ganz versessen auf Pferde und reinigt die Ställe für ein paar Kreuzer
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