Der Krake
Mesonychoteuthis, dem Koloss-Kalmar, einem riesigen, gedrungen gebauten Rivalen von Architeuthis, in Ehren gehalten. Ja, dieser Mesonychoteuthis war kürzlich ebenfalls mit historisch ungewöhnlichem Elan vor Kamera- und Videooptiken aufgetaucht. Und er war ein Furcht einflößendes Tier. Sicher, er hatte eine größere Masse, und sein Mantel war länger; zugegeben, seine Tentakel griffen nicht mit Saugnäpfen zu, sondern mit gefährlichen gekrümmten Katzenkrallen. Aber ganz gleich, welche Form er hatte und wie auch immer seine Daten sich von Architeuthis unterschieden, er würde niemals der Riesenkalmar sein. Er war ein nach Anerkennung lechzendes Monster. Daher das blödsinnige Gerede derer, die ihn erforschten und sich bemühten, den sprichwörtlichen Kraken ihrem neuen Favoriten unterzuordnen: »ohnegleichen«, »sogar noch größer«, »um eine ganze Größenordnung gefährlicher.«
Aber man brauchte sich nur die Bilder von Kubodera und Mori anzusehen. Das war wohl kaum der schwache Opportunist, den seine Verächter sich erträumt hatten. Architeuthis wartete nicht mit baumelnden Tentakeln. Architeuthis griff an, schoss aus der Tiefe empor, jagte.
Billy starrte auf den Bildschirm. Zehn Arme, fünf sich kreuzende Linien, zwei länger als die anderen. Das silberne Symbol auf der Anstecknadel, das er gesehen hatte, stellte dieses Raubtier dar. So wie es von der Beute wahrgenommen wurde.
Er ging durch die Flure und hatte einen Stapel Papiere unter dem Arm, damit es aussah, als liefe er gezielt von einem bestimmten Ort zu einem anderen. Er betrat Räume, die er betreten durfte, nickte grüßend Polizisten zu, die Räume bewachten, die ihm versperrt waren. Ungeachtet seiner neuen Erkenntnis hatte er keine Ahnung, was er zu finden hoffte.
Er verließ das Darwin Centre und schlenderte zum Museum. Dort sah er keine Polizisten. Er nahm den Weg, den er als Kind immer gegangen war, vorbei am starr blickenden Ichthyosaurus, an versteinerten Ammoniten, vorbei an dem Raum, der mittlerweile als Café genutzt wurde. Dort endlich, im Herzen der Institution, glaubte er, einen Laut zu hören. Das Geräusch von einem rollenden Glas. Sehr schwach.
Es kam - oder klang so als ob, korrigierte er sich - von einer Tür, die für Besucher gesperrt war und nach unten in den Lagerbereich und in die Seitenflure führte. Er lauschte an der Tür, hinter sich die Polizei. Er hörte nichts. Er tippte seinen Zugangscode und stieg die Treppe hinunter.
Billy wanderte durch fensterlose unterirdische Gänge. Er sagte sich, dass er keinem wirklichen Geräusch folgte. Dass der Hinweis, nach dem er suchte, seiner eigenen Fantasie entsprang. In Ordnung, sagte er sich. Hilf mir. Was suche ich? Was beabsichtigst du - was beabsichtige ich - zu tun?
Wächter und Kuratoren hoben die Hände zum kurzen Gruß, als er an ihnen vorbeiging. Die Räume und Flure waren von Industrieregalen gesäumt, gefüllt mit Pappkartons, die mit dicker Schrift markiert waren; mit leeren Glaskästen oder überzähligen Präparaten; mit Papieren; mit ungenutzten Möbeln. Dort unter den Heizungsrohren, zwischen hohen Ziegelwänden und Stützpfeilern, hörte Billy abermals das Geräusch. Hinter einer Biegung. Er folgte ihm wie einer Brotkrumenspur.
Der Korridor weitete sich, nicht zu einem Raum, sondern zu einem breiten Gang. Er war vollgestopft mit taxidermischen Kostproben, ein viktorianisches Beinhaus. Säugetierköpfe blickten von den Wänden herab wie hundert Faladas; Bisons steif wie alternde Soldaten neben einem Gips-Iguanodon und einem zerfledderten Emu. Und dort war ein Dickicht von präparierten, hoch aufgerichteten Giraffenhälsen, deren Köpfe über ihm ein Dach bildeten.
Ein Klirren, ein Klappern. Unter den Neonröhren warfen die ausgestopften Kadaver harte Schatten. Billy hörte ein weiteres leises Geräusch. Es kam aus dem Dunkel vor der Mauer, aus der Tiefe des Präparatelagers.
Billy verließ den Gang. Er zwängte sich zwischen starren antiken Leibern hindurch, drang tiefer in den kleinen Wald tierischer Überreste ein. Er blickte hoch, als hielte er Ausschau nach Vögeln, und suchte sich einen Weg in Richtung der weiß getünchten Mauern. Er vernahm kein weiteres Geräusch mehr, nur sein eigenes angestrengtes Atmen und das Scharren seiner Kleidung auf trockenen Tierfellen. Er umrundete einen Stapel Flusspferdteile und stieß auf etwas, das für einen Moment keinen Sinn ergab.
Glas, ein alter Glasbehälter, größer als alle, die er bisher gesehen hatte.
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