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Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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»Auch wenn es noch ein bisschen früh ist. Was zum Teufel ist los? Welchem Umstand verdanke ich ... Herrje, Billy.«
    »Komm rein.« Billy nahm ihm die Tüte und die Briefumschläge ab.
    »Ja, wie ich gerade sagen wollte, welchem Umstand verdanke ich gleich zwei Treffen in so kurzer Zeit?«
    »Trink lieber was. Du wirst mir kein Wort glauben.«
    Billy setzte sich Leon gegenüber und klappte den Mund auf, um ihm alles zu erzählen. Aber er wusste nicht, ob er mit der Leiche im Glas anfangen sollte oder mit dem sonderbaren Angebot der Polizisten. Seine Zunge versagte, war vorübergehend nur ein Stück Fleisch. Er schluckte. Es war, als erhole er sich von einer zahnärztlichen Behandlung.
    »Du verstehst das nicht«, sagte er zu Leon. »Ich habe mich nie großartig mit meinem Dad zerstritten, wir haben uns nur irgendwie aus den Augen verloren.« Ihm ging auf, dass er ein Gespräch fortsetzte, das sie vor Monaten geführt hatten. »Meinen Bruder konnte ich nie ausstehen. Den habe ich absichtlich aus den Augen verloren. Aber mein Dad ...«
    Seinen Vater hatte er als langweilig empfunden, mehr nicht. Und er hatte stets das Gefühl gehabt, dass der allzu antriebslose Mann, der nach dem Tod von Billys Mutter allein gelebt hatte, ihm gegenüber genauso empfand. Seit er den Kontakt hatte einschlafen lassen, waren mehrere Jahre vergangen.
    »Erinnerst du dich an die Samstagvormittagssendungen im Fernsehen?«, fragte er. Er hatte Leon von dem Mann im Glas erzählen wollen. »Ich weiß noch, dieses eine Mal.« Er hatte seinem Vater eine Zeichentricksendung gezeigt, die ihn gefesselt hatte, und im Gesicht des Mannes nichts als Fassungslosigkeit gesehen. Er war nicht fähig, die Leidenschaften des Jungen nachzuvollziehen oder zumindest so zu tun. Jahre später ging Billy auf, dass das der Moment gewesen war, in dem er - damals nicht älter als zehn - erstmals den Verdacht gehegt hatte, dass sie gemeinsam keine große Chance hatten.
    »Ich habe die Sendung sogar«, sagte Billy. »Ich habe sie kürzlich auf einer Website entdeckt. Willst du sie sehen?« Es war eine Harman-Ising-Produktion von 1936, die er schon viele Male gesehen hatte. Das Abenteuer der gläsernen Bewohner der Regale eines Apothekers. Es war außergewöhnlich. Und beängstigend.
    »Du weißt ja, wie das ist«, sagte Billy. »Manchmal, wenn ich irgendetwas präpariere oder irgendwas im Labor zu tun habe oder was auch immer, ertappe ich mich dabei, wie ich einen der Songs aus dem Film singe. ›Spirits of amo-o-o-onia ...‹«
    »Billy.« Leon hob eine Hand. »Was ist los?«
    Billy brach ab und versuchte erneut zu erzählen, was passiert war. Er schluckte und kämpfte gegen den eigenen Mund, als wollte er irgendeinen klebrigen Eindringling hinausbefördern. Und dann, endlich, mit einem Schnauben, sprach er aus, was er zu sagen beabsichtigte, berichtete von seiner Entdeckung im Keller und von dem Angebot, das die Polizei ihm unterbreitet hatte.
    Leon hörte ihm mit ernster Miene zu. »Solltest du mir das wirklich erzählen?«, fragte er schließlich. Billy lachte.
    »Nein, aber du weißt ja, wie es ist.«
    »Ich meine, es ist buchstäblich unmöglich, dass so etwas wirklich passiert ist«, sagte Leon.
    »Ich weiß. Ich weiß, dass es das ist.«
    Lange Zeit starrten sie einander nur an. »Es gibt ...«, sagte Leon dann. »Es gibt vielleicht mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...«
    »Wenn du mir jetzt mit Shakespeare-Zitaten kommst, dann bringe ich dich um. Jesus, Leon, ich habe einen toten Mann in einem Glas gefunden.«
    »Das ist schon heftig. Und die haben dich aufgefordert, für sie zu arbeiten? Du sollst Bulle werden?«
    »Berater.«
    Als Leon den Kalmar einen Monat zuvor besucht hatte, hatte er wow gesagt. Wow. So, wie man vielleicht wow sagt, wenn man ein Dinosaurierskelett betrachtet. Oder die Kronjuwelen. Oder ein Aquarell von Turner. Wow, wie es die Eltern und Partner sagten, die um einer anderen Person willen das Darwin Centre aufsuchten. Billy war enttäuscht gewesen.
    »Was hast du jetzt vor?«, fragte Leon.
    »Ich weiß es nicht.« Billy musterte die Postsendungen, die Leon mit heraufgebracht hatte. Zwei Rechnungen und ein schweres Paket in braunem Papier, das auf altmodische Art mit einer faserigen Schnur gebunden war. Er setzte die Brille auf und schnitt die Schnur durch.
    »Triffst du dich später noch mit Marginalia?«, fragte er.
    »Ja, und sprich nicht in diesem Ton, wenn du ihren Namen nennst, oder ich sorge dafür, dass sie ihn dir erklärt«,

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