Der Kranich (German Edition)
hatte noch keine Zeit gehabt, seine Gedanken und Gefühle in eine artikulierbare Ordnung zu bringen. Am liebsten hätte er den Termin abgesagt, doch da er nicht recht wusste, wie er das ihr und sich selbst gegenüber hätte begründen sollen, tat er es nicht. Außerdem freute er sich darauf, sie zu sehen. Vielleicht sogar etwas zu sehr. Auf einer halbbewussten Ebene, die er schleunigst zu verdrängen versuchte, nahm er wahr, dass er sie an diesem Abend lieber in einem privaten Kontext getroffen hätte.
Er widmete der Auswahl seiner Garderobe etwas zu viel Zeit und war mit dem Ergebnis dennoch unzufrieden. Rasch strich er noch einmal mit dem Rasierer über sein Kinn und betupfte sich anschließend mit duftendem Aftershave, was er gewöhnlich nicht tat. Stirnrunzelnd betrachtete er sein Gesicht im Spiegel und fühlte sich elend. Seit er denken konnte, verbrachte er die meiste Zeit seines Lebens damit, anderen dabei zu helfen, herauszufinden, wer sie waren – doch wer war eigentlich er selbst? War er dabei, sich in den Biografien seiner Klienten zu verlieren, wie ein Schauspieler in seinen Rollen? Gab es eigentlich noch ein Leben, das Gustav Elvert hieß? Mit einer energischen Handbewegung strich er sich durchs Haar und fegte gleichzeitig die egozentrischen Gedanken beiseite. Vom Grübeln wurde es nur schlimmer.
Karin Kutscher trug ein geblümtes Kleid mit einer pastellgelben Strickjacke und hatte das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Das strahlende Lächeln, mit dem sie ihn empfing, stand in krassem Kontrast zu der weiterhin äußerst unwirtlichen Wetterlage, und sofort wurde ihm warm.
„Hallo, Gustav. Schön, dass es bei dir heute geklappt hat. Hast du den Samstag gut verkraftet?“
Sie plauderten ein paar Minuten über die Veranstaltung, vor allem über Professor Bonnatti. Karin Kutscher stimmte mit Elvert überein, dass dieser alles andere in den Schatten gestellt hatte. Sie lobte jedoch auch Elverts Beitrag noch einmal ausdrücklich, und er wandte seine gesammelte Konzentration auf, um nicht rot zu werden. Vielleicht war es ja doch nicht so schlimm, dass er seine bahnbrechende Abhandlung wahrscheinlich nie schreiben würde, denn im Zentrum allgemeiner Aufmerksamkeit zu stehen, war seine Sache nun wirklich nicht!
„Wie war deine Woche?“
„Ich beginne bei meinem neuen Traumaklienten mit einer emdr-Sequenz. Du weißt schon, Stammheim …“
Sie nickte. „Wie willst du seinen Konsum kontrollieren?“
„Gar nicht. Ich habe einen Vertrag mit ihm ausgehandelt.“ Elvert wunderte sich ein bisschen darüber, dass seine Unsicherheit plötzlich wie weggeblasen schien und er keinerlei Schwierigkeiten hatte, seine Vorgehensweise zu rechtfertigen.
„Denkst du, dass er schon soweit ist?“
„Ja. Da bin ich sicher.“
Sie nickte abermals. Sie hatte es auch gemerkt. „Halt mich auf dem Laufenden. Was noch?“
Gustav Elvert strich sich übers Kinn. Es fühlte sich seltsam an, glattrasiert wie ein Kinderpopo. Der Duft des Aftershaves stieg ihm in die Nase, und er fragte sich, ob er zu viel aufgetragen hatte. „Luk…“ Er biss sich auf die Lippe. Fast hätte er seinen Namen ausgesprochen. Er war unkonzentriert. Es wäre nicht schlimm gewesen, da sie ihn ja nicht kannte, trotzdem hatten seine Klienten ein Recht auf Anonymität. „Luke Skywalker …“ verbesserte er sich.
Karin Kutscher lächelte erneut. „Star Wars, ich weiß.“
Elvert lächelte nicht. Erinnerungsfetzen flogen vorbei. Laura. Der seltsame Traum von Lukas. Das Schachspiel. Viele zerschmetterte Träume … Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie konnte es nicht verstehen. Noch nicht.
„Gustav? Lässt du mich teilhaben?“
„Ich glaube, ich habe ihn verloren.“
Sie runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“
„Ich dachte, wir hätten etwas aufgebaut. Eine tragfähige Basis gegenseitigen Vertrauens geschaffen. Aber jetzt droht alles wegzubrechen. Irgendwas passiert, und ich komme einfach nicht dahinter. Er schließt mich aus.“
„Du weißt, dass Phasen dieser Art immer wieder vorkommen. Speziell mit Autisten. Ihr hattet eine intensive Zeit. Ich sehe das nicht als eine beunruhigende Entwicklung.“
Elvert schüttelte den Kopf. „Ich würde ihn nicht als Autisten bezeichnen.“
„Erzähl mir von der Stunde.“
„Wir haben Schach gespielt.“
„Was noch?“
„Ich habe ihm persönliche Dinge erzählt. Und ich hatte diesen Traum …“
„Erzähl mir von dem Traum.“
„Er starb.“
„Wie?“
„Ich weiß es
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