Der Kranich (German Edition)
spielst mit dem Gedanken, ernst zu machen.“
Seufzend klappte Martin Beier die Akte zu. Er blickte auf den großen Wecker vor ihm auf dem Schreibtisch, dann zu dem Bild, das daneben stand. Das einzige Bild, das jemals auf seinem Schreibtisch gestanden hatte. Susanne und Eva vor, wie es schien, einer Unendlichkeit von Jahren. Eva war noch ein Kind. Beide lachten, und ihre langen blonden Haare wurden vom Wind zerzaust. Die Aufnahme war auf Sylt entstanden, am Strand, er selbst hatte sie gemacht. Es war ein schöner Urlaub gewesen. In einer Zeit, bevor diese ständigen, ermüdenden Kämpfe begonnen hatten. Er lehnte sich zurück und versuchte sich daran zu erinnern, weshalb sie überhaupt entstanden waren, diese permanenten Streitereien, diese endlosen gegenseitigen Schuldzuweisungen … Wie war es dazu gekommen? Man hatte sich auseinandergelebt. Unspektakulär. Alltäglich. Es war nicht einmal ein Dritter involviert gewesen. Auf keiner Seite. Vielleicht, wenn sie ein zweites Kind gehabt hätten …
Unschlüssig griff Martin Beier zum Telefonhörer, wählte ein paar Ziffern, legte wieder auf. Erneut öffnete er die vor ihm liegende Akte, las darin herum, ohne etwas mitzubekommen, klappte sie wieder zu. Seine Sekretärin schaute herein, fragte, ob sie Feierabend machen könne, abwesend nickte er. Schließlich griff er wieder zum Telefon. Es war eine Handy-Nummer, und es klingelte lange, bis Susanne Beier sich meldete.
„Ich bin’s, Martin. Könnten wir … Ich würde gerne mit dir reden. Es geht um Eva.“
Das Telefonat war kurz. Anschließend stand Martin Beier auf, nahm seinen Mantel vom Haken, löschte die Lichter und schloss sein Büro ab.
Er fuhr direkt nach Cannstatt. Kurz überlegte er, noch beim Chinesen um die Ecke vorbeizugehen, entschied sich dann aber doch dagegen. Zu Hause angekommen, räumte er rasch ein bisschen auf und warf dann ein paar Spaghetti in den Topf. Er rührte gerade die Tomatensoße an, als es an der Tür klingelte.
„Danke, dass du gekommen bist. Komm rein.“
Es war das erste Mal, dass seine Ex-Frau seine Wohnung betrat, und genau genommen war es seit sechs Jahren überhaupt das erste Mal, dass sie sich zu einem Gespräch trafen. Sechs Jahre – so lange schon? Er fühlte sich alt. Natürlich hatten sie sich zwischendurch gesehen – zwischen Tür und Angel. Meist, wenn er Eva abgeholt oder nach Hause gebracht hatte, doch das tat er schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Eva war jetzt erwachsen und hatte ihr eigenes Auto.
Susanne schien im Gegensatz zu ihm kein bisschen älter geworden zu sein. Im Gegenteil. Sie sah gut aus. Sie trug das Haar jetzt kurz wie Eva und mit kleinen cognacfarbenen Strähnchen darin, das ließ sie viel jünger wirken. Er räusperte sich.
„Möchtest du vielleicht …? Ich habe gerade ein paar Spaghetti fertig …“
Susanne Beier hatte sich kurz umgesehen und setzte sich nun aufs Sofa. „Nein, danke. Könnten wir gleich zur Sache kommen, ich bin müde und möchte nach Hause.“
„Ja, sicher, natürlich.“ Er eilte in die Küche zurück und nahm die anbrennende Soße vom Feuer. Mit zwei Flaschen in der Hand ging er wieder ins Zimmer. „Aber du trinkst doch ein Glas … Orangensaft? Oder Wein?“
„Orangensaft, bitte. Du hast gesagt, es geht um Eva. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?“
Allerdings solltest du das wissen, dachte er und schenkte zwei Gläser voll, und du solltest nicht mich brauchen, um dich mit der Nase draufzustoßen. Er räusperte sich erneut.
„Es ist wegen ihrem Freund. Lukas.“
„Was ist mit ihm?“
Er seufzte. Sie wusste es also tatsächlich nicht. Er hatte immer noch gehofft, er hätte sich geirrt. „Ist dir nicht aufgefallen, wie sie sich verändert hat, seit es aus ist?“
Überrascht blickte seine Ex-Frau von ihrem Glas auf. „Es ist aus? Und sie hat mit dir darüber gesprochen?“
„Nicht wirklich. Immerhin lebt sie ja bei dir. Dir ist also wirklich überhaupt nichts aufgefallen?“ Die letzten Sätze kamen vorwurfsvoller als beabsichtigt, und entsprechend empfindlich fiel die Reaktion aus.
„Weißt du eigentlich überhaupt, wie viel ich arbeite? Neun, zehn, manchmal elf Stunden am Tag! Weißt du, was so ein Studium kostet?“
Ehe er es sich versah, war er in eine Rechtfertigungssituation geraten. „Elfstundentage kenne ich zur Genüge, und immerhin zahle ich ja Unterhalt. Aber du als Mutter solltest dir schon manchmal ein paar Gedanken um das seelische Wohlergehen deiner Tochter
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