Der Kranich (German Edition)
einfiel.
Er hieß Akzeptanz.
Seinen guten Vorsätzen gemäß griff Gustav Elvert am Donnerstagabend zum Telefon und rief Matthias an. Er erreichte ihn just in dem Moment, als Matthias seine wöchentliche Gruppensitzung „Autogenes Training“ beendet hatte und hungrig war. Daher stimmte er Elverts Vorschlag, gemeinsam etwas essen zu gehen, sofort begeistert zu.
Um der alten Zeiten willen trafen sie sich im „Maulwurf“. Da es noch nicht spät war, fanden sie sogar auf Anhieb einen Sitzplatz. Elvert warf einen Blick auf die Tafel, auf der mit weißer Kreide die kleine aber feine Speisekarte verzeichnet war, und bestellte einen Flammkuchen, Matthias einen Schnitzelburger. Nachdem das vollbusige Mädchen, das die Bestellung aufnahm, Richtung Theke verschwunden war, lehnte Elvert sich in seinem Stuhl zurück und ließ für einen Augenblick die vertraute Atmosphäre der Studentenkneipe auf sich wirken. Obwohl er nur ein paar hundert Meter entfernt lebte und arbeitete, war er jahrelang nicht hier gewesen. Er besah sich die anderen Gäste und fühlte sich plötzlich alt. Sein Gesicht schien dabei Bände zu sprechen, denn Matthias grinste.
„Ich war auch ziemlich lange nicht mehr hier.“
Die Kellnerin erschien wieder und stellte zwei Hefeweizen auf den Tisch.
Elvert trank einen Schluck und dachte an Karin Kutscher. Um nicht über sich sprechen zu müssen, fragte er Matthias nach seiner Arbeit.
„Ich kann nicht klagen. Im Moment bin ich mit Einzeltherapien ausgebucht, und auch die Gruppe ist voll. Die Flyer, die ich in der Mensa ausgelegt habe, waren ein Riesenerfolg. Die armen Studenten wissen heutzutage vor lauter Stress nicht mehr ein noch aus. Entspannungstechniken scheinen mir da manchmal nur ein Tropfen auf dem heißen Stein zu sein.“
„Ich weiß, was du meinst. Aber da wir die politische Großwetterlage nun mal nicht ändern können, bleibt uns nichts anderes übrig, als an den Symptomen herumzudoktern.“
Matthias nickte resigniert. „Da hast du wohl recht.“
Als das Mädchen mit dem Essen kam, verirrte Elverts Blick sich in ihr Dekolleté, was Matthias nicht entging.
„Also, was ich sagen wollte … Melitta ist wirklich eine sehr interessante Frau. Und eine Schönheit noch dazu.“
„Melitta?“
„Die Kunsttherapeutin.“
Elvert lächelte müde. „Ach so. Na wenn das so ist, warum vertiefst du dann deine Beziehungen zu ihr nicht?“
„Leider bin ich bereits in festen Händen, wie du weißt, aber was hältst du von einem gemütlichen Abend zu viert? Abgesehen davon: Wie fandest du den Stammtisch neulich? Hast du vor, wieder öfter zu kommen? Du wärst eine Bereicherung. Es wird tendenziell etwas eingleisig.“
Abwesend beschäftigte Elvert sich eine Zeit lang mit seinem Flammkuchen. „Tja, mal sehen. Das Gespräch mit Helmut würde ich bei Gelegenheit gerne fortsetzen. Er hat etwas … In-sich-Ruhendes, das mich sehr beeindruckt hat.“
„Seine Arbeit füllt ihn aus. Ich denke, er erlebt sie als Berufung.“
Elvert blickte auf und legte das Besteck zur Seite. „Und du? Erlebst du, was du tust, als Berufung?“
„Du kennst mich, Gustav. Ich bin Pragmatiker. Für mich ist es ein Beruf wie jeder andere auch. Aber du tendierst, glaube ich, eher zu Helmuts Sichtweise.“
„Vielleicht versuche ich das gerade herauszufinden.“
Die Adresse, die ihm genannt worden war, befand sich irgendwo in Untertürkheim. Mario Pross blickte sich fröstelnd um. Der vereiste Asphalt des Bürgersteigs reflektierte die bunte Leuchtreklame. BAR. Erst blau, dann rot, dann gelb, dann wieder blau. Ein paar ebenfalls bunt leuchtende Pfeile wiesen auf den Eingang. Allerdings machten weder das Gebäude noch die Umgebung noch die Gestalten, die sich herumdrückten, einen besonders einladenden Eindruck. Mario Pross war nicht zimperlich, doch hier schien es sich um eine Spelunke der besonders unappetitlichen Art zu handeln. Nun ja, schließlich war er nicht zum Vergnügen hier.
Entschlossen öffnete er die schwere Eingangstür und ging einen dunklen Gang entlang zu einem Raum, in dem im Halbdunkeln ein annähernd nacktes Mädchen in High Heels an einer senkrecht in den Boden eingelassenen Metallstange herumturnte. Die Musik war immerhin erträglich. Das Interesse der wenigen Gäste, die sich im Raum befanden, konzentrierte sich ausschließlich auf die minderjährige Tänzerin. Mario Pross würdigte sie jedoch keines Blickes, sondern setzte sich an die Bar und bestellte ein Bier. Als die ebenfalls dürftig
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