Der Kranich (German Edition)
Wir wollen kein Geld zurück. Dafür ist die kleine Kostprobe, die Sie uns übergeben haben, viel zu interessant. Wir beschäftigen wirklich gute Informatiker, das können Sie mir ruhig glauben, aber keiner von ihnen hat jemals einen vergleichbaren Algorithmus gesehen! Sie waren regelrecht paralysiert.“
„Na toll. Dann haben Sie doch, was Sie wollten.“
„Nicht ganz, leider. Das Programm ist an einer entscheidenden Stelle unvollständig und daher im Moment noch unbrauchbar. Bedauerlicherweise sehen sich meine Leute außerstande, das Problem zu beheben. Sie hatten eine faire Chance, uns den Urheber des Quellcodes zu liefern, und ich wiederhole mich nicht gern. Also nennen Sie uns einfach den Namen und die Anschrift, und wir können das hier zu einem schnellen Ende bringen.“
Thomas Lamprecht atmete innerlich auf. Insgeheim hatte er befürchtet, sie hätten Lukas Stegmann bereits ausfindig gemacht. Da das offensichtlich nicht der Fall war, war er auch nicht in Gefahr. Natürlich hätte Lamprecht die Männer zu einer beliebigen Adresse schicken können, doch das hätte die Sache nur verzögert, also zog er es vor zu schweigen. Erwartungsgemäß folgten weitere Schläge, und das Blut floss ihm übers Gesicht, doch er spürte es kaum. Die Gegenwart begann zu verschwimmen, unklar, wie durch Watte drangen die Stimmen zu ihm, und was sie sagten, hatte keine Bedeutung.
Er war vier Jahre alt. Sein Vater stand vor ihm. Groß. Breit. Laut. Er roch nach Alkohol, und er hatte einen Gürtel in der Hand. Wie ein Peitschenhieb raste der Lederriemen auf Thomas Lamprecht herunter, und es wurde dunkel.
Er nahm nicht wahr, wie er vom Stuhl losgebunden und über den Boden geschleift wurde. Erst, als sein Kopf in eiskaltes Wasser eintauchte, erschien bruchstückhaft wieder die Gegenwart. Deutlich spürte er das Gummi der Handschuhe an seinem Hals. Er wurde aus dem Wasser gerissen, Stimmen erklangen.
„Mach langsam, Prick, er soll uns noch was sagen können!“
„Keine Sorge, der hält schon was aus.“
Wieder tauchte Lamprecht ins Wasser ein. Es wurde still. Das Wasser fühlte sich gut an. Weich. Kühl. Er wehrte sich nicht. Zehn Sekunden. Zwanzig. Dreißig. Ein Reflex versuchte durchzubrechen, der Körper schrie nach Sauerstoff, doch selbst wenn Lamprecht noch Kraft gehabt hätte, was nicht der Fall war, er hätte gegen den eisernen Griff, in dem er sich befand, nicht den Hauch einer Chance gehabt.
Das Gesicht seines Vaters verschwamm, dann, für den Bruchteil einer Sekunde, tauchte Gustav Elvert auf. Lamprecht rief sich die Technik der Progressiven Muskelentspannung ins Gedächtnis, auch wenn er längst nicht mehr über die Motorik verfügte, etwas davon auszuführen. Seltsamerweise beruhigte schon der Gedanke daran. Wieder wurde es dunkel.
Im letzten Moment, bevor er das Bewusstsein verlor, wurde sein Kopf abermals aus dem Wasser gerissen. Rasselnd füllten sich seine Lungen mit Luft. Inzwischen hatte sich auch die Augenbinde etwas gelöst, sodass er sehen konnte, dass er sich über einer Badewanne befand. Die Kacheln waren groß und hellblau. Es schien ein teures Badezimmer zu sein. Ein Luxusappartement oder ein Hotel. Wieder wurde er geschlagen, doch Schmerz nahm er längst nicht mehr wahr.
„Den Namen!“
Thomas Lamprecht spürte, wie ihn seine Kraft Stück um Stück verließ und fühlte sich erleichtert. Er war nicht sicher gewesen, ob er durchhalten würde, doch nun wusste er es. Es würde nicht mehr lange dauern.
„Verdammt noch mal, Prick, du bringst ihn um. Mach eine Pause.“
„Du wusstest vorher, dass das nicht die Art ist, wie ich gewöhnlich arbeite.“
„Wie du gewöhnlich arbeitest, interessiert hier keinen.“
Der eiserne Griff lockerte sich, und Lamprecht schlug mit dem Kopf auf die hellblauen Kacheln auf. Die Augenbinde hatte sich fast völlig gelöst, er sah den Kräftigen und dahinter den Brillenträger. Der dritte Mann war nicht zu sehen, doch seine Stimme ertönte von hinter der Tür.
„Na gut. Wenn’s so nicht klappt, dann versuchen wir’s eben anders. Du hast da eine süße, kleine Tochter,
Lamprecht
.“
Thomas Lamprecht erstarrte. Also doch. Sie wussten, wer er war, sie wussten, wo er wohnte, sie wussten von Judith und Nina. Er hatte den größten Fehler gemacht, den man machen konnte: Er hatte den Gegner gründlich unterschätzt. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass der Junge in der Lage war, auf sich selbst aufzupassen. Gerade als er Luft holte, um seinen Namen preiszugeben,
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