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Der Krater

Titel: Der Krater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Preston
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richtet ziemlichen Schaden an.« Abbey holte ihre Karte hervor, breitete sie auf dem kiesigen Sand aus und beschwerte die Ecken mit Steinen. Die Linie, die sie gezogen hatte, führte leicht schräg über die Insel, von dem Strand aus, an dem sie gelandet waren. Sie legte ihren Kompass auf die Karte, richtete ihn aus, stand auf und bestimmte den Kurs.
    »Wir gehen in diese Richtung«, sagte sie mit ausgestrecktem Zeigefinger.
    »Alles klar.«
    Abbey ging voran in den dichten Fichtenwald. Sie erinnerte sich an ein Gedicht, das sie einmal hatte auswendig lernen und eines Abends vor der gesamten Schule und ihren Eltern vortragen müssen. Es hatte ihr die Kehle zugeschnürt, und sie hatte das Gedicht komplett vergessen – hatte eine lange, qualvolle Minute lang da oben auf der Bühne gestanden, ehe sie in Tränen ausgebrochen und davongelaufen war –, doch jetzt kam es ihr unvermittelt in den Sinn.
    Hier der Urwald ragt. Die murmelnden Fichten und Tannen,
    moosigen Barts in grünendem Kleid’, undeutlich im Zwielicht,
    Steh’n wie Druiden der Vorzeit, mit dust’rer prophetischer Stimme.
    Das war irgendwie die Geschichte ihres Lebens: schlechtes Timing.
    Sie schlug sich in den Wald, immer dem Kompass nach. Dämmriges grünliches Licht drang durch die hohen Bäume, und der Wind seufzte in den Wipfeln. Es war, als schreite sie den Mittelgang einer riesigen grünen Kathedrale entlang – die Bäume wirkten wie gewaltige Säulen, der Boden federte jeden Schritt mit einem dicken Moosteppich ab. Abbey atmete den würzigen Fichtenduft ein und erinnerte sich an die vielen Campingausflüge auf diese Insel. Als kleines Mädchen hatte sie oft mit ihren Eltern hier gezeltet, auf der Wiese auf der Nordseite. Sie hatten in ihren Schlafsäcken unter dem Nachthimmel gelegen und Sternschnuppen gezählt. Damals war die Insel völlig verlassen gewesen, die alten Farmhäuser halb verfallen. Jetzt wurden viele von Rentnern gekauft und zu Ferienhäusern umgebaut, und die Insel veränderte sich. Bald, dachte sie, würde all die Wildheit, die Atmosphäre der Verlassenheit und des Verfalls verschwunden sein, verdrängt von niedlichen Sommerhäuschen, Spitzenvorhängen und gefährlichen Großmüttern, die Kinder von ihrem Grund und Boden verscheuchten.
    Der Wald wurde dichter, und sie mussten auf Händen und Knien unter einer Reihe umgestürzter Baumstämme durchkriechen.
    »Ich sehe hier keinen Krater«, sagte Jackie.
    »Wir haben doch gerade erst angefangen.«
    Bald erreichten sie eine Lichtung, auf der eine Mauer ein Durcheinander von Grabsteinen umschloss. Der alte Inselfriedhof.
    »Essenszeit!«, rief Jackie, stieg über die Mauer, streifte ihren Rucksack ab und ließ sich nieder. Den Rücken an einen Grabstein gelehnt, drehte sie erst einmal einen Joint.
    Abbey spazierte über den alten Friedhof und las die Namen auf den Grabsteinen. Die ulkigen alten Namen, die typisch für Maine waren, klangen wie die Musterrolle einer untergegangenen Welt: Zebediah Loud, Hiram Carter, Ora May Poland, Nehemiah Swett. Ihre Gedanken schweiften zum Begräbnis ihrer Mutter ab. Abbey erinnerte sich daran, wie sie vor der Menge um das offene Grab geflohen und auf einen Hügel gestiegen war. Sie hatte auch dort die Inschriften auf den Grabsteinen gelesen, um nicht völlig die Fassung zu verlieren. Ganz oben hatte sie auf das Häuflein Menschen an dem schwarzen Loch zurückgeblickt, auf die kahlen Bäume, das eisige Gras, den leuchtend grünen Kunstrasen um das Grab.
    Es war ihr immer noch unmöglich erschienen, dass ihre Mutter nicht mehr sein sollte. Sie würde den Tag nie vergessen, als sie den Arzt im Krankenhaus gefragt hatte: Wie ist das passiert? Er hatte sie so kummervoll angesehen, ein guter Mann, geschlagen von der Wissenschaft. »Genau wissen wir das nicht«, hatte er gesagt, »aber aus irgendeinem Grund hat sich vor fünf oder vielleicht auch zehn Jahren eine Zelle falsch geteilt, und damit hat es angefangen …«
    Eine Zelle hat sich falsch geteilt.
Seltsam, dass etwas so Winziges so gigantische Auswirkungen haben konnte.
    »He, du!«, rief Jackie, deren Stimme sich aus dem kleinen Wald der Grabsteine erhob. »Hörst du endlich auf, an den Gräbern deiner Ahnen niederzuknien, und kommst her, damit wir uns diese Tüte teilen können?«
    Abbey ging zu Jackie zurück, die mit dem Rücken an einem Grabstein lehnte. »
Meine
Ahnen? Pass auf, mit wem du redest, weißes Mädchen.«
    »Lass den Blödsinn, du bist genauso sehr in Maine verwurzelt wie ich.

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