Der Kreis aus Stein
uns beobachten, nur damit wir artig sind. Kein Mensch will, daß seine Geheimnisse aller Welt preisgegeben werden. Ich kenne einige Lords, die, glaube ich, nur deshalb großzügig und anständig sind, weil sie nicht wollen, dass die Nachwelt erfährt, wie es wirklich in ihrem Herz aussieht.
Aber wie gut sind wir, Iome, wenn wir Güte nur in der Öffentlichkeit vorgeben?«
Gaborn umarmte sie, zog sie wieder an seine Brust, küßte sie aber nicht. Statt dessen schien es eher eine erneute Aufforderung zu sein, sich auszuruhen und ein wenig Schlaf zu finden. Aber Iome konnte sich jetzt nicht ausruhen. Sie versuchte sich zu entspannen.
Dabei fragte sie sich, ob es ihm ernst war. Wollte er lediglich anständig sein, oder stieß sie ihn insgeheim ab? Vielleicht wagte er nicht einmal, sich selbst die Wahrheit einzugestehen.
»Iome Sylvarresta«, sagte Gaborn, die Stimme kühl und äußerst förmlich. »Ich habe meine Heimat Mystarria verlassen und bin weit geritten, um dir eine einzige Frage zu stellen. Vor zwei Tagen hast du mir gesagt, deine Antwort sei nein. Aber ich frage mich, ob du vielleicht bereit wärst, sie noch einmal zu überdenken?«
Iomes Herz klopfte, und sie dachte heftig nach. Sie konnte ihm nichts bieten. Raj Ahten stand immer noch in ihrem Land, hatte ihre Schönheit geraubt, das Herzstück ihrer Armee vernichtet. Obwohl Gaborn vorgab, sie zu lieben, befürchtete sie, er werde, wenn Raj Ahten überlebte, ihr natürliches Gesicht nie wiedersehen, und müßte statt dessen ihr Leben lang in diese häßliche Maske blicken.
Sie konnte ihm nichts schenken außer ihrer Hingabe. Wie sollte die ihn halten? Als Prinzessin der Runenlords hatte sie sich nie in dieser Position gesehen, in der sie einen Mann liebte und wiedergeliebt wurde, obwohl sie nichts zu bieten hatte außer sich selbst.
»Das darfst du mich nicht fragen«, sagte Iome mit bebenden Lippen und rasendem Herzen. »Ich… darf meine eigenen Wünsche in dieser Angelegenheit nicht in Betracht ziehen.
Aber wenn ich deine Frau wäre, würde ich alles Erdenkliche tun, damit du diesen Handel nie bereuen müßtest. Ich würde nie einen anderen küssen, wie ich dich gerade geküßt habe.«
Gaborn hielt sie fest, bequem, behaglich, so daß ihr Rücken sich an seine Brust schmiegte. »Du bist meine verlorengegangene Hälfte, weißt du das?« flüsterte Gaborn.
Iome lehnte sich an ihn, genoß seine Wärme, während sein süßer Atem ihren Nacken streifte. Sie hatte nie an die alten Geschichten geglaubt, in denen es hieß, jeder Mensch bestehe nur aus einer halben Seele und sei dazu verdammt, unablässig deren Gegenstück zu suchen. Jetzt spürte sie es, erkannte die Wahrheit, die in diesen Worten lag.
Gaborn flüsterte ihr spielerisch ins Ohr: »Und wenn du mich eines Tages zum Mann haben wirst, werde ich alles Erdenkliche tun, damit du mich nie für zu anständig hältst.«
Er schlang ihr die Arme um die Schultern, drückte sie fest an sich und ließ ihren Kopf zurück an seine Brust sinken. Die Innenseite seines linken Handgelenks ruhte auf ihrer Brust, und obwohl die Berührung sie erregte, fühlte sie sich nicht länger übermütig oder verlegen.
So sollte es sein, dachte sie – ich gehöre ihm, er gehört mir.
So sollten wir eins werden.
Sie war müde, verträumt. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es in Mystarria sein würde, im königlichen Palast. Sie wagte zu träumen. Sie hatte Geschichten gehört, von weißen Booten, die auf dem mächtigen, grauen Fluß und durch die Kanäle der Stadt fuhren. Von grünen Hügeln und dem salzigen Geruch der See. Vom Nebel, der stets im Morgengrauen aufzog. Von den Schreien der Möwen und dem endlosen Brechen der Wellen.
Fast sah sie den königlichen Palast vor sich, darin ein großes Bett mit seidenen Laken, violette Vorhänge, die in die offenen Fenster wehen, und sich selbst, nackt an Gaborns Seite.
»Erzähl mir von Mystarria«, bat Iome leise. »›In Mystarria liegen die Lagunen wie Obsidian zwischen den Wurzeln der Zypressen…‹«, zitierte sie ein altes Lied. »Ist es wirklich so?«
Gaborn sang die Melodie, und obwohl er keine Laute hatte, um sich zu begleiten, klang seine Stimme wunderschön.
»In Mystarria liegen die Lagunen wie Obsidian zwischen den Wurzeln der Zypressen.
Kein Sonnenlicht spiegelt sich in schwarzen Teichen, auf denen still die Lilien treiben.«
Angeblich waren diese Lagunen die Heimat der Wasserzauberer und ihrer Töchter, der Nymphen. Iome sagte: »Ich habe nie die
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