Der Kreis aus Stein
Vektor. Raj Ahtens Annektoren suchten einen Platz, wo sie den Neuen ablegen konnten. Ein blinder Übereigner, der neben Eremon schlief, wälzte sich im Schlaf herum und schmiegte sich der Wärme wegen an den kraftlosen, zerlumpten Körper eines anderen.
Dadurch entstand eine schmale Lücke neben Eremon, und die Annektoren murmelten etwas in ihrer eigenen Sprache.
»Mazza, halab, dao abo.« Hier, schaff diesen Klumpen Kamelmist her.
Jemand stieß Eremons steife Beine beiseite, so als sei er besagter Klumpen. Den neuen Übereigner legten sie neben ihm ab.
Eremon starrte in das Gesicht des Eunuchen Salim al Daub, kaum fünf Zoll von seinem eigenen Gesicht entfernt. Der dicke Mann atmete ganz langsam, so wie jemand, der Stoffwechsel abgetreten hatte. Neben Eremon lag jener Mann, der seine Gaben besaß – wehrlos. Ein Vektor für Gaben des Stoffwechsels. Ein Vektor, wie Eremon vermutete, für Raj Ahten.
Er war in tiefen Schlaf versunken, aus dem er, das schwor sich Eremon, nicht mehr erwachen würde.
Auf einem Hocker in der gegenüberliegenden Ecke des Karrens saß eine Wache, ein Unbesiegbarer mit Dolch und gelangweilter Miene. Eremon durfte keine rasche Bewegung riskieren, durfte keine Aufmerksamkeit erregen, aber er hatte sich sowieso seit sechs Jahren nicht mehr schnell bewegt.
Minutenlang versuchte Eremon behutsam, die rechte Hand zu öffnen. Es fiel ihm schwer. Er war zu aufgeregt, zu sehr von Zorn erfüllt. Ein Schauder überkam ihn. Denn wenn er diesen Mann vernichten konnte, dann hätte er doppelt gewonnen – er hätte seine eigenen Gaben zurück und würde Raj Ahten gleichzeitig Gaben des Stoffwechsels rauben.
Aber draußen tobte eine Schlacht. Immer wieder zuckte Finsternis über den Himmel. Auf den Burgmauern schrien Männer.
Eremon hätte gerne noch seine Gaben der Körperkraft besessen, hätte Salim gerne mit übermenschlicher Finesse erwürgt. Doch die waren ihm letzte Nacht abhanden gekommen.
Viele lange Minuten bemühte er sich, seine gottverdammte, nutzlose Hand zu Öffnen. Plötzlich, während er sich abmühte, verspürte Eremon plötzlich ein gewaltiges, brennendes Verlangen. Schlag zu. Schlag sofort zu, wenn du kannst!
Und während der Gedanke von ihm Besitz ergriff, entkrampfte sich seine Hand so langsam, wie sich eine Blüte öffnet.
KAPITEL 28
Auf einem Bergpfad
Als Borenson von Bannisferre fortritt, fühlte er sich dem Wahnsinn nahe. Er war wie besessen, nur halb bei Bewußtsein. Er stellte sich vor, welche Verheerungen er unter den Truppen von Raj Ahten anrichten würde.
Da er von Norden kam, sah er keinerlei Anzeichen einer Schlacht. Zu viele Hügel und Berge verstellten ihm den Blick auf Longmot. Er sah nicht, wie der Himmel schwarz wurde, denn die niedrigen, über die Berge ziehenden Wolken verdunkelten alles. Einmal glaubte er Schreie zu hören, doch nur von weitem, und er hielt sie für Stimmen aus einem Wachtraum, für ein Überbleibsel der Zerstörungsphantasien, die sich in seinem Kopf abspielten.
Südlich des Bergdorfes Kestrel bog er von seinem Weg ab und hetzte sein Pferd über den Waldpfad, in der Hoffnung, schneller voranzukommen. In diesen Bergen war er oft mit seinem König auf die Jagd gegangen. Er befand sich ein wenig nördlich von Grovermans Jagdsitz, einer ebenso geräumigen wie bequemen Hütte.
Vor den Wichten und den Tieren des Waldes hatte er keine Angst. Er befürchtete nur, daß er zu spät in Longmot eintreffen könnte.
Als er in die Berge hinaufstieg, wurde es kühler. Ein eiskalter Nieselregen durchnäßte ihn bis auf die Haut und machte den Bergpfad schlüpfrig. Bald darauf ging der Regen in Graupel und Schnee über, so daß er auf dem Bergpfad mehr Zeit verlor, als wenn er auf der Straße geblieben wäre.
Hoch oben in den Bergen, am eschenbestandenen Rand eines schmalen Tales, sah er Spuren eines Greifers – Fußspuren, die den Waldpfad kreuzten. Der Greifer hatte hier innerhalb der letzten Stunden, kurz vor dem Morgengrauen, etwas Schweres durchgeschleift. Auf dem Boden gab es rote Flecken geronnenen Blutes. Die Spuren waren sehr frisch.
Der Abdruck der Greiferspuren war nahezu drei Fuß lang und zwei breit. Vier Zehen. Ein Weibchen. Ein großes Weibchen.
Borenson blieb auf seinem Pferd sitzen, während er die Fährte
untersuchte.
In
einem
Durcheinander
aus
scharfkantigen Steinen lagen ein paar schwarze Haare.
Offenbar hatte der Greifer einen Kadaver quer über den Weg geschleift, vielleicht ein Wildschwein. Doch für ein Wildschwein
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