Der Kreis aus Stein
unerträglich wie die Scham, die ihn überkam, sobald er an König Sylvarresta und Iome dachte, die noch am Leben waren.
Die beiden zu verschonen, hatte Dutzende andere das Leben gekostet. Sie zu verschonen, verlieh Raj Ahten Macht.
Nur wenig Macht, das stimmte. Doch wenn Borenson und einige andere Meuchelmörder im richtigen Augenblick über Raj Ahtens Übereigner herfielen, konnte der Wolflord in den Zustand ungünstiger Proportionen gelangen.
Heute jage ich Raj Ahten, sagte sich Borenson, und ließ seine Mordlust in jeden Muskel und Knochen eindringen, ließ sich von ihr einhüllen wie von einer Decke.
Heute bin ich der Tod. Heute jage ich ihn und nichts anderes.
In seiner Phantasie spielte er das Töten durch, bereitete er sich mit jeder Faser seines Körpers, jeder seiner Reaktionen auf das kaltblütige Morden vor. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er hier, Meilen nördlich von Longmot, auf der Straße auf Raj Ahtens Späher stieße. Er würde sie niederreiten, sie mit seiner Lanze aufspießen, bis eine Woge ihres warmen Blutes über ihm zusammenschlug und keine Zeugen zurückblieben.
Dann würde er eine Uniform stehlen, Hals über Kopf durch die Schlachtreihen reiten und sich auf Raj Ahten stürzen, als hätte er eine Botschaft für ihn. Und seine Botschaft wäre der Tod.
Die Krieger aus Inkarra behaupteten, Krieg sei eine finstere Dame, und daß diejenigen Männer, die ihr am besten zu Willen waren, ihre Gunst gewannen. Sie behaupteten, sie sei eine Macht wie Erde oder Luft, Feuer oder Wasser.
In den Königreichen von Rofehavan jedoch hieß es, Krieg sei nur ein Aspekt des Feuers, und niemand könne ihm zu Willen sein.
Aber die verdammten Inkarrer müßten es eigentlich wissen, dachte Borenson. Sie waren meisterliche Krieger. Borenson hatte sich nie um die Gunst dieser finsteren Dame bemüht, hatte nie zuvor zu ihr gesprochen, jetzt aber formte sich ein Gebet auf seinen Lippen, ein uraltes Gebet, das er bei anderen gehört, aber nie gewagt hatte, selbst laut auszusprechen.
»Nimm mich in deine Arme, finstere Dame, nimm mich.
Wickle mich in Grabeskleider, und hauche deinen süßen Atem kalt auf mein Gesieht. Dunkelheit soll mich befallen, mich erfüll’n mit deiner Macht. Heut’ ruf ich dich, heut’ bin ich der Tod.«
Borenson begann zu lächeln, während er dahinritt, dann fing er tief und kehlig an, in sich hineinzulachen, daß es wie ein Grollen vor irgendwo außerhalb seines Körpers klang, das von den Bergen oder von den Bäumen her erscholl und stetig lauter wurde.
KAPITEL 29
Ein perfekter Tag
Orden wachte unter Schmerzen auf, unfähig zu sagen, wie lange er bewußtlos gewesen war. Das Blut um seinen Mund war noch feucht und schmeckte kupfern auf seiner Zunge. Jeden Augenblick, glaubte Mendellas Orden, wird Raj Ahten mich wieder treten und anfangen, auf mich einzuschlagen, bis ich tot bin.
Doch nichts geschah. Orden war schwach, stand an der Grenze zur Bewußtlosigkeit und wartete auf den tödlichen Hieb, der nicht erfolgte.
Dank seiner fünfzehn Gaben des Durchhaltevermögens war der König imstande, ungeheure Verletzungen zu überleben.
Seine Wunden, so schwer sie im Augenblick auch sein mochten, würden nicht seinen Tod nach sich ziehen. Wochen der Genesung vielleicht, aber nicht den Tod.
Er öffnete sein gesundes Auge, versuchte etwas zu erkennen.
Die hoch stehende Sonne drang schwach durch die Wolken, dann wurde der Himmel schwarz.
Die nahe Lichtung war menschenleer.
Er schluckte, strengte sich an, nachzudenken. Als er bewußtlos geworden war, hatte er das leise Klingeln eines Kettenharnisches gehört. Dumpf wurde ihm klar, daß dies Raj Ahten gewesen sein konnte, der davongelaufen war. Er ließ den Blick über das Feld am Rand der Hügelkuppe wandern.
Der Wind wiegte die Fichten leicht, das Gras lag flach wie in einem heftigen Sturm. Ein Schwarm Stare stand in der Luft wie Distelwolle, keine zehn Meter von ihm entfernt. Doch Orden lebte so schnell, daß im Vergleich zu ihm der Wind langsam zu blasen schien.
Raj Ahten war geflohen.
Er hat mich zurückgelassen, erkannte Orden, weil er annimmt, daß ich Teil einer Schlange bin. Er hat mich zurückgelassen, damit er die Burg angreifen kann. Er hörte ein leises Brausen wie das Rauschen des Meeres. Ein Tosen wie von einer brodelnden Flut. In seinem Zustand der Schnellebigkeit hatte sich die Welt der Geräusche drastisch verändert.
Jetzt wurde ihm klar, daß dies lauter Lärm sein mußte, Kriegsgeschrei. Mit einer Hand
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