Der Kreis aus Stein
Burg Sylvarresta bekam Chemoise gerade in der AVorratskammer ihr Abendessen, als sie den Drang verspürte, zuzuschlagen. Der Wunsch überkam sie so plötzlich und gründlich, daß sie reflexartig mit der Hand auf den Tisch schlug und einen Laib Käse zertrümmerte.
Myrrima mäßigte ihre Reaktion durch vernünftiges Nachdenken. Das Getöse des Krieges ließ das Landhaus erzittern, in dem sie sich versteckte, und der Himmel draußen war schwarz. Sie konnte nicht gegen Raj Ahtens Soldaten losschlagen, wußte, daß sie ihnen nicht gewachsen wäre. Also rannte sie die Treppe hinauf, um sich unter dem Bett irgendeines Lords zu verkriechen.
Sechs Jahre zuvor hatte sich Eremon Vottania Solette entschieden, als Übereigner von Salim al Daub zu leben, denn er hatte zwei Träume: der erste war, seine Tochter wiederzusehen. Der zweite war, zu überleben, bis er seine Anmut zurückbekam, damit er, kampffähig, mitten unter Raj Ahtens Übereignern wieder erwachte.
Doch mit den Jahren waren Eremons Hoffnungen geschwunden. Raj Ahtens Annektoren hatten ihm zuviel Anmut genommen, hatten ihn in einer todesähnlichen Starre zurückgelassen. Ihrer Beweglichkeit beraubt, wurden seine Arme und Beine unbrauchbar.
Das Leben wurde zur Qual. Die Muskeln in seiner Brust ließen sich leicht genug zusammenziehen, so daß er einatmen konnte, danach aber mußte er sie bewußt entspannen, um ausatmen zu können. Manchmal krampfte sein Herz sich zusammen und ließ sich nicht öffnen, dann rang er insgeheim voller Angst mit dem Tod.
Unfähig, die Lippen zu entspannen, fiel ihm das Sprechen durch die zusammengebissenen Zähne schwer. Er konnte nicht kauen. Sobald er etwas Festeres als die dünne Suppe hinunterschluckte, mit der ihn Raj Ahtens Bedienstete fütterten, lag ihm das wie Blei im Magen. Die Muskeln seines Unterleibs ließen sich nicht weit genug zusammenziehen, um es zu verdauen.
Seine Blase zu leeren oder Stuhlgang zu haben, war eine verwirrende und peinliche Angelegenheit, ein Vorgang, der stundenlange Mühen nötig machte.
Seine fünf Gaben des Durchhaltevermögens waren zu einer Belastung geworden, denn sie hielten ihn am Leben, wo er sich doch längst nach dem Tod sehnte. Er hatte sich oft gewünscht, König Sylvarresta sollte die Männer erschlagen, die Eremon als Übereigner gedient hatten. Doch der König war zu weich gewesen, und so siechte Eremon dahin. Bis gestern abend.
Endlich schien der Tod greifbar nahe.
Seine Finger krümmten sich zu unbrauchbaren Fäusten. Seit Jahren lag er zu einem Ball zusammengerollt, an den Hüften abgeknickt. Zwar blieb er dank der Gaben der Muskelkraft kräftig, doch einige Muskeln in seinen Armen und Beinen hatten sich zurückgebildet. So hatte er also, eingesperrt in einen geschwächten Körper, in dem Bewußtsein dagelegen, daß er nie Gelegenheit bekommen würde, sich zu rächen – ein hilfloses Werkzeug von Raj Ahten.
Daher schien es wie ein Wunder, als sein erster Traum in Erfüllung ging, und Raj Ahten beschloß, ihn nach Heredon zu schaffen und seinen schwächer werdenden Körper König Sylvarresta vor die Füße zu werfen. Damit hatte er den guten König entehren wollen. Raj Ahten scheute oft keine Mühe, wenn er solches im Sinn hatte. Eremon war es wie ein Wunder vorgekommen, als er seine Tochter Chemoise sah. Sie war wunderschön
geworden,
war
nicht
mehr
das
sommersprossige Kind aus seiner Erinnerung.
Sie zu sehen hatte genügt. Jetzt hatte Eremon das Gefühl, daß sein Leben abgeschlossen sei. Von nun an würde er langsam in Vergessenheit geraten.
Doch eins mußte er noch tun. Er siechte im Karren für die Übereigner dahin, als dieser zu schwanken begann, denn jemand trat auf das Trittbrett und machte die Tür auf. Eremon öffnete langsam die Augen. Wolken von Fliegen stiegen in dem finsteren Karren von den Übereignern rings um ihn auf.
Männer und Frauen, die man wie gesalzene Elritzen in einem Tongefäß zusammengepfercht hatte, kauerten auf Lagern aus schimmeligem Stroh.
Dicht bei der Tür standen Annektoren in grauen Gewändern und kommandierten herum. Sonnenstrahlen stachen in den Raum hinein und blendeten ihn, trotzdem konnte Eremon erkennen, daß sie einen Körper an die Wand gelehnt hatten.
Einen neuen Übereigner. Ein weiteres Opfer.
»Was haben wir denn hier?« fragte die Wache.
»Stoffwechsel?«
Der Annektor nickte. Eremon konnte die Narben sehen, die der Mann trug – er hatte ein Dutzend Gaben des Stoffwechsels übernommen und diente jetzt als
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