Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
schönen Plan zu Makulatur gemacht hatte. Also mussten die britischen Bundesgenossen wieder einmal ausziehen, um hier einen Entlastungsangriff zu unternehmen. Und der begann jetzt.
Dank der Erfindung des Telefons konnte die Attacke so gut wie gleichzeitig auf breiter Front beginnen. Fast augenblicklich brach über Davids und Nicks Köpfen ein mörderisches Gewitter herein.
»Behalte den Kopf unten«, brüllte David seinem Freund zu. Es war nicht festzustellen, ob Nick ihn gehört hatte oder instinktiv das einzig Richtige tat.
Wieder stürmten Männer über das Niemandsland, schossen, stachen, hackten und starben. Wenn sie auch nicht mehr ganz so blind in die feindlichen Maschinengewehrgarben liefen, starben dennoch genug, um mit ihren Namen hunderte von Kriegerdenkmälern zu pflastern.
David hatte schon fast jegliches Gefühl für jenen Zustand verloren, den man gemeinhin Lebensgefahr nannte. Es war ja nicht zu ändern, dass ihm alle Geschosse aus dem Weg gingen, als könnten sie seinen Körpergeruch nicht ausstehen. Was ihm an diesem Tag aber wirklich Qualen bereitete, war die Sorge um Nick. Während es Patronen und Schrapnelle vom Himmel regnete, wurde ihm bewusst, dass dies ein Himmelfahrtskommando war. Und Nick hatte sich auch noch freiwillig dazu gemeldet!
Nach einer nicht näher bestimmbaren Leidenszeit spähte David wieder einmal über den Kraterrand. Dabei entdeckte er ganz in der Nähe einen Kameraden, der eben noch lief und sich im nächsten Moment auch schon am Boden wälzte.
»Bleib hier«, brüllte er in Nicks Ohr.
»Wo willst du hin?«, antworteten dessen Lippen. Seine Worte gingen in einer Explosion unter.
David machte eine beschwichtigende Geste und war im nächsten Moment auch schon oben. Er rannte zu dem Verwundeten. Eine Fleischwunde in der Hüfte. Etwas Verbandszeug und wenigstens dieses Leben würde gerettet sein. Schnell schleifte er den schreienden jungen Mann zum Krater zurück und ließ ihn hinabgleiten.
»Bist du verrückt da rauszugehen?«, kreischte Nick. Er schien jedoch mehr um das eigene Leben als um das seines Freundes zu bangen.
»Ich konnte ihn doch nicht einfach sterben lassen.«
Nick schüttelte den Kopf und beobachtete, wie sein Freund die Blutung des Verwundeten stillte.
Ungefähr eine Stunde später lagen drei weitere Verletzte in der Erdsenke und es wurde allmählich eng. Davon unbeirrt hielt David weiterhin nach Bedürftigen Ausschau, denen er seine Hilfe angedeihen lassen konnte. Dabei machte er mit einem Mal eine schreckliche Entdeckung. Ganz in der Nähe regneten dosenförmige Behälter vom Himmel und es dauerte einige Sekunden, bis er zwei unglaubliche Dinge begriff: Erstens kamen die Geschosse von hinten, also aus den eigenen Reihen, und zweitens entstieg den Kapseln ein gelblicher Qualm, der nur eines bedeuten konnte…
»Gas!«, brüllte er. »Schnell, ruf im Befehlsstand an und gib es durch.«
Nick reagierte sofort. Während er dem Vorgesetzten mit heftigen Worten meldete, dass sie für einen erfolgreichen Gasangriff doch bitte etwas weiter schießen sollten, begann David in Windeseile den Verwundeten beim Anlegen der Gasmasken zu helfen. Eine einzelne Gasbombe hätte er vielleicht noch mit seiner Gabe der Verzögerung aufhalten können, aber es war ihm unmöglich, sich auf so viele Quellen gleichzeitig zu konzentrieren. Nachdem er zweien die Nasenklemme angelegt und den Schlauch zum Filterbehälter in den Mund gesteckt hatte, musste er feststellen, dass die beiden anderen ihre Schutzausrüstung unterwegs verloren hatten. Grob stieß er die verängstigten Männer zu Boden, tränkte schnell etwas von dem Verbandszeug mit dem Wasser aus seiner Feldflasche und legte den Kameraden die feuchten Tücher aufs Gesicht. Anschließend häufte er mit bloßen Händen eine dünne Schicht Erde über ihre Köpfe. Erst dann legte er seine eigene Maske an.
Es war furchtbar. Das Brennen in den Augen, der überwältigende Hustenreiz. David musste mit sich kämpfen, um sich nicht in die Gasmaske zu erbrechen. Zum ersten Mal seit Monaten bekam er eine Ahnung davon, was es bedeuten könnte zu sterben. War er etwa doch nicht unverwundbar? Auf jeden Fall war jetzt der ungeeignetste Zeitpunkt für sein Hinscheiden. Er musste die Verwundeten zurückbringen. Und auf Nick aufpassen!
Als wollte ihn sein Unterbewusstsein noch zusätzlich peinigen, schickte es ihm in diesen Minuten Erinnerungen an grausame Berichte, In der Schlacht von Ypern war das Gas, diese neue furchtbare Waffe,
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