Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
von den Deutschen zum ersten Mal in großem Stil eingesetzt worden. Damals wusste man noch weniger damit umzugehen als jetzt und die eigenen Soldaten litten beinahe genauso darunter wie der Gegner. Wie David nun am eigenen Leibe zu spüren bekam, waren die Fortschritte der Genies des Todes noch immer weit entfernt von jeder Unfehlbarkeit. Die britischen Chemiker wollten heute offenbar ihr neuestes Gebräu an den Deutschen ausprobieren. Leider hatten sie sich dabei etwas in der Entfernung verschätzt.
Es grenzte an ein Wunder, dass David kurz nach Sonnenuntergang alle seine Schützlinge lebend zurückbrachte. Noch lange erzählte man sich in den Gräben von dem bedrückenden Bild: Vorne trug ein aschblonder Soldat einen Verletzten und hinten ein weißhaariger Jüngling einen zweiten Verwundeten. Zwischen ihnen liefen zwei andere, die Augen verbunden, die Hände jeweils auf die Schulter des Vordermannes gelegt. Ohne die Schutzmasken hatte David nicht mehr für die Erblindeten tun können. Ihre Augen waren vom Gas zerfressen worden.
Man hätte Nivelles Operation glatt für einen Aprilscherz halten können, wäre sie nicht auf so tragische Weise gescheitert. Anfangs gab es sogar noch Erfolg versprechende Aktionen. Im Verein mit den nun schon so bewährten Artilleriebombardements gelang es wirklich, dem Gegner einige empfindliche Verluste beizubringen. Im nördlichen Frontabschnitt fiel dem Kanadischen Korps sogar Vimy Ridge in die Hände. Aber wieder einmal, wie schon so oft in diesem Krieg, zehrten am Ende eigene Fehler die Erfolge auf Die starken Truppenbewegungen im britisch kontrollierten Hinterland brachten dort den Verkehr fast zum Erliegen. Der Nachschub stockte. Dadurch konnten die Deutschen ihre Verteidigung wieder verstärken und die Erfolge der ersten fünf Tage wieder einmal nicht Gewinn bringend verwertet werden.
Während sich die Englisch sprechenden Einheiten im Norden verausgabten, tappten Nivelles französische Soldaten an der Aisne-Front in ein Netz deutscher Maschinengewehrnester. Am Ende des ersten Tages hatte man gerade einen halben Kilometer erobert, anstatt der ins Auge gefassten zehn. Nivelles Irrtum forderte unter seinen Männern fast einhundertzwanzigtausend Opfer. Nach einer angemessenen Pause, die General Nivelle brauchte, um sein Gesicht zu wahren, trat er als Oberbefehlshaber der französischen Truppen zurück.
Diese ehrenvolle Tat Nivelles kam etwas zu spät, um sechzehn französische Korps von der Meuterei abzuhalten. Die Armeeführung verkündete eilig, aufrührerische Propaganda hätte diese kollektive Fehlentscheidung verursacht. Wie sollte man auch sonst erklären, dass gestandene Soldaten, die erschöpft vom Angriff zurückkehrten, ihren Kameraden zuriefen: »Wir werden die Gräben verteidigen, aber angreifen tun wir nicht mehr.«
Man beschloss auf die Amerikaner und die Tanks zu warten.
Der Abschied
Das unnütze Taktieren Nivelles bescherte David und Nick eine Luftveränderung. Sie durften sich bis auf fünfzig Kilometer der Nordsee nähern. Der Marsch nach Norden war tatsächlich für sie wie eine Erholung. Die Mailuft war lau. Fast konnte man vergessen, dass man ja hier war, um zu töten. Abseits der großen Schlachtfelder blühten Blumen und unbeschreiblich hübsche Mädchen. Warum hatte David früher nie bemerkt, dass diese zweite Sorte Mensch so anmutig war?
Als ihre Einheit bei Hazebrouck an einem Bauernhof Rast machte – Nick war gerade auf der Suche nach etwas Essbarem –, erblickte er ein zauberhaftes Geschöpf, dem bereits anzusehen war, zu welch makelloser Blüte es einmal heranwachsen würde. Die Kleine hieß Rebekka und war erst zwölf.
Das Mädchen hatte für die müden Männer Wasser aus dem Brunnen des Hofes geschöpft, bis sich endlich David erbarmte und ihr den Eimer abnahm. Mit dem wenigen Französisch, das er bisher aufgeschnappt hatte, ließ sich keine rechte Konversation in Gang bringen, deshalb wagte er, der schwarzhaarigen Kleinen ein paar deutsche Brocken hinzuwerfen. Erst runzelte sie die Stirn – die Deutschen hatten sich hier nicht gerade beliebt gemacht –, aber angesichts der vielen Tommy-Uniformen konnte sie schnell wieder lächeln. »Meine Mutter ist französisch, aber mein Vater aus Flandern. Von ihm habe ich auch ein Klecks Deutsch gelernt«, sagte sie, nicht ohne Akzent, aber sonst fast perfekt.
»Ich habe mal in Wien die Schule besucht, aber eigentlich bin ich Engländer. Ich heiße David«, antwortete er und um die
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