Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
angenehme helle Stimme der Kleinen noch ein wenig länger zu hören, fügte er hinzu: »Diese Situation hier am Brunnen erinnert mich an eine ganz ähnliche aus der Bibel. Wusstest du, dass Rebekka auch Wasser geschöpft hat, bevor sie Isaak zur Frau gegeben wurde?«
Das Mädchen stieß ein trällerndes Lachen aus. »Ja, sie hat einen Haufen Kamele getränkt. Das ist wirklich ähnlich!«
Die Schlagfertigkeit der Kleinen verblüffte David. Einen Moment sah er sie nur sprachlos an, aber dann musste er grinsen und schließlich sogar laut lachen. »Du gefällst mir, Rebekka!«
»Wieso, du heißt doch David und nicht Isaak.« David spürte, wie er rot wurde. »Bedauerst du das?« Rebekka legte den Kopf schief und musterte David aus ihren großen dunklen Augen. Ihr ebenmäßiges Gesicht war dabei ausgesprochen ernst. »Ein wenig schon«, antwortete sie schließlich.
Immer noch fühlte sich Davids Gesicht ungewöhnlich heiß an. »Du bist für dein Alter ganz schön kokett, Rebekka!«
»Wieso, darf ich nicht sagen, wenn mir ein Mann gefällt?«
»Normalerweise funktioniert das andersherum.«
»Du stammst wohl noch aus dem letzten Jahrhundert.« Das Thema wurde David allmählich zu brenzlig. »Du gehst scheinbar regelmäßig in die Sonntagsschule – weil du dich so gut in der Bibel auskennst, meine ich.«
»Nein.« Rebekkas heiteres Gesicht verdunkelte sich mit einem Mal. »Ich kenne zwar die Thora auswendig, aber das habe ich von meinen Eltern gelernt. Früher hat mir Vater daraus vorgelesen, aber er ist bei Verdun totgebracht…«
»Umgebracht«, verbesserte David. Dann biss er sich auf die Zunge.
»Ist dein Vater auch umgebracht?« David nickte ernst. »Ja, mein Vater und meine Mutter.« In diesem Moment tat das Mädchen mit den schwarzen langen Haaren etwas für David sehr Verwirrendes. Obwohl sie doch selbst traurig sein musste, machte sie einen Schritt auf ihn zu und legte ihre warme Hand an seine Wange. Sie lächelte ihn für einen langen Augenblick an. Dann drehte sie sich um und lief davon.
Als Davids Einheit Hazebrouck schon weit hinter sich gelassen hatte, dachte er noch immer über das anmutige Geschöpf auf dem Bauernhof nach. Warum wurden solchen Kindern die Väter entrissen, während sie ihnen noch aus der Thora vorlasen oder aus der Bibel oder aus sonst einem Buch? David wollte es sich nicht eingestehen, aber die Begegnung mit diesem noch so unfertigen Menschenkind hatte in ihm etwas angerührt. Rebekkas selbstlose Art, ihm ihr Mitgefühl auszudrücken, vergällte ihm die Lust über seinen eigenen Tod nachzudenken. Vielleicht wäre es doch nicht so verkehrt, wenn er diesem Krieg bald den Rücken kehren könnte.
Vorerst sah es jedoch nicht danach aus. Einzig Russlands Kriegswille zerbröckelte immer mehr. Die Soldaten dort waren noch erbärmlicher dran als ihre Kameraden an der Westfront. In dem vergangenen harten Winter waren viele Soldaten erfroren oder verhungert. Meutereien in der russischen Armee gehörten zur Tagesordnung. Im März hatten sich deshalb in Petrograd die Massen erhoben, ein Ereignis, das wegen des immer etwas nachhinkenden russischen Kalenders fortan als »Februarrevolution« gefeiert wurde. Zar Nikolaus II. musste abdanken und verbrachte nun mit seiner Familie einen ungeplanten Urlaub in Sibirien. Angeblich hatten die Deutschen in einem plombierten Zug aus der Schweiz einen russischen Exilanten namens Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich selbst Lenin nannte, nach Petrograd verbracht. Der hatte Kaiser Wilhelm II. einen Separatfrieden versprochen. Mit einem solchen in der Tasche konnten die Deutschen die Ostfront abbrechen und ihre ganze Kraft gen Westen werfen. Nein, nach Frieden sah es im Moment wirklich nicht aus.
David verfügte nicht über genügend Einblicke in das Räderwerk der Weltpolitik, um abschätzen zu können, ob Deutschlands Wiederaufnahme des unbeschränkten U-Boot-Krieges im Atlantik etwas mit der Hoffnung auf baldige Entlastung im Osten zu tun hatte. Sicher war, dass sie dadurch die Vereinigten Staaten von Amerika bis zur Weißglut reizten, namentlich Woodrow Wilson, den Präsidenten, der früher ein enthusiastischer Deutschlandfreund gewesen war. Solch ein Standpunkt ließ sich nach der Versenkung einer Reihe von amerikanischen Zivilschiffen natürlich nicht mehr aufrecht erhalten. Deshalb sahen sich die USA bemüßigt, Anfang April 1917 in den Krieg einzutreten.
Als David und Nick nicht ganz zwei Monate später ihre neue Einheit erreichten, spielte das für
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