Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
sich der Lord etwa für ein höheres Wesen?
Mit einem letzten Blick zum verlassenen Schreibtisch hin riss sich Jeff von der geheimnisvollen Szene los. Der Ring des Lords thronte wieder über dem Kreis der anderen, genau auf der Zwölfuhrposition. Zwar hatte Jeff das von seinem Platz aus nicht erkennen können, aber er war sich dessen dennoch sicher.
Während er auf leisen Sohlen durch den Park schlich, versuchte er Ordnung in das Chaos seiner Gedanken zu bringen. Er glaubte eine Gefahr zu spüren, war aber nicht fähig sie beim Namen zu nennen. All die Gerüchte aus Tunbridge Wells…! Womöglich steckte mehr dahinter, als er sich hatte eingestehen wollen. War The Weald House vielleicht doch der Schlupfwinkel einer Geheimloge, die irgendeinen verschwörerischen Plan verfolgte? Nie darf jemand erfahren, was wirklich heute Nacht an diesem Ort geschehen ist. Was war das für ein »Werk«, von dem Belial gesprochen hatte?
Vielleicht sollte die Welt außerhalb des Waldes von Kent davon erfahren, vielleicht musste sie es (möglicherweise ließen sich dabei auch einige Pence hinzuverdienen).
Als Jeff das Haus wieder durch den Dienstboteneingang betrat, war der Entschluss in ihm gereift: Er musste herausfinden, was hier gespielt wurde. Zu deutlich klangen noch die warnenden Worte Pater Garricks durch seinen Sinn. Wie könnten wir da jenen dienen, die selbst Knechte des Prinzen dieser Welt sind? Vielleicht hatte er, Jeff, sich zu leichtfertig an diesen Lord Belial verkauft. Auch wenn er ein Dieb war, wollte er sich nicht zum Spielball finsterer Mächte machen lassen. Er musste wissen, auf was für einen Handel er sich da eingelassen hatte.
Ungesehen schlich Jeff in den ersten Stock des Südflügels hinauf. Vorbei an den nun entzündeten Feuerschalen stahl er sich den Flur entlang auf den Mittelbau zu. Hier oben herrschte Totenstille. Der Bannkreis des Lords hielt jede Menschenseele fern.
Jeff erreichte unbehelligt das Hauptgebäude und schlug nun den Weg zum Wappensaal ein. Wenig später schlich er sich lautlos auf die Galerie hinaus. Zum Glück hatte er die Tür zur Empore schon am Nachmittag ausprobiert und wusste, wie weit er sie öffnen durfte, bevor sie zu knarren begann. Er bezog wieder sein altes Versteck hinter dem schweren Samtvorhang. Aus dem Saal unten drang nur eine einzige Stimme zu ihm herauf. Er hätte sie unter Millionen wieder erkannt. Sie gehörte Lord Belial.
»Nachdem Wir mit Genugtuung Eure Berichte aus aller Welt gehört haben, wollen Wir Euch Unser Lob aussprechen. Kein anderer Bund hat jemals Gleiches vollbracht wie Der Kreis der Dämmerung. Doch nun wollen wir uns zu noch viel größeren Taten aufschwingen. Ein Werk liegt vor uns, mit dem wir das Angesicht der Welt verändern werden.«
Ein vielstimmiges Raunen ging durch den Saal. Vorsichtig spähte Jeff zu der gedeckten Tafel hinunter. Es sah so aus, als wäre er gerade noch rechtzeitig erschienen, um eine wichtige Ankündigung des Lords zu hören. Bisher hatte er noch keinen einzigen der erlauchten Gäste gesehen, nur deren Dienstpersonal. Sein Blick wanderte über die unterschiedlichen Gesichter. Da waren alle Hautfarben vertreten. Die Delegierten dieser geheimen Sitzung schienen aus sämtlichen Erdteilen zu stammen. Auch ein ungewöhnlich hoch gewachsener Asiate fiel ihm auf. Das musste Double-Os Herr sein.
Am hinteren Ende der runden Tafel, unter den Schatten des blauen Baldachins, saß Lord Belial. Seine Gestalt war nur ein etwas tieferes Schwarz in der Finsternis seiner Umgebung, sein Gesicht eine helle Wolke, die fast bewegungslos in der Luft zu schweben schien. Aber seine Stimme war wie ein scharfes Schwert, das sich in die Gehörgänge der Anwesenden bohrte.
»Die Menschenwelt ist entartet!«, geiferte Belial mit unerwarteter Heftigkeit. »Das niedere Volk spielt sich als Souverän auf, ohne je gelernt zu haben, was es heißt zu herrschen. Seine Könige macht es zu Marionetten und nennt das Ganze konstitutionelle Monarchien. Und die Machthaber, die Männer von Rang und Ansehen? Anstatt dem niederen Volk Vorbild zu sein, treiben sie den Verfall von Sitte und Moral noch auf die Spitze. Am schlimmsten sind die Geistlichen aller Glaubensrichtungen. Sie haben mehr Blut vergossen als jede andere Gruppe, haben gehurt und das Volk ausgebeutet. Der Mann auf der Straße lacht über sie – und wünscht gleichzeitig, sich nur ein einziges Mal so austoben zu dürfen wie sie. Unter dem Deckmantel der Aufklärung breitet sich die Anarchie in der
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