Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Primaballerina Anna Pawlowa gezeigt hatte, die Rebekka sehr bewunderte. Aber David wusste es besser. Allein schon, wenn er den watschelnden Entengang Chaplins parodierte, kicherte sein Mädchen anhaltend. Beim Original – im Kino – schüttelte sich ihr schwarzer Bubikopf vor Lachen, selbst wenn alle anderen im Saal ergriffen schwiegen.
Während das Jahr sich dem Ende entgegenneigte, vollzog sich eine fast unmerkliche Veränderung im Verhältnis des jungen Paares. Zuerst war es David gar nicht aufgefallen, dass Rebekka ihm keine Heiratsanträge mehr machte.
Seit er wie vereinbart bei der Times seinen Posten als »stellvertretender Redakteur für außenpolitische Themen, Schwerpunkt Asien, Spezialgebiet Japan« angetreten hatte, war die Zeit für ihn ein knappes Gut geworden. Und dennoch – während Rebekka im März 1924 immer stiller wurde, kam ihm dieser Umstand schmerzlich zu Bewusstsein – lag darin nicht des Problemes wahrer Grund. Er hatte neben der Arbeit und dem anstrengenden Unterhaltungsprogramm auch wieder seine Spurensuche aufgenommen.
Inzwischen bewohnte David ein bescheidenes Etablissement in der Carter Lane, unweit von St. Paul’s Cathedral. Von hier aus konnte er nicht nur die Redaktion der Times bequem zu Fuß erreichen, sondern er war auch schnell in der Britischen Bibliothek. Die Notizen aus der Isis Tavern harrten noch ihrer weiteren Ausarbeitung. Seit jenem aufschlussreichen Gespräch mit J. R. R. Tolkien hatte David nur wenig Neues zutage gefördert. Seine Magisterarbeit und die Monate mit Rebekka waren einfach viel zu aufreibend gewesen.
Seit einigen Wochen war er nun wieder ganz bei der Sache, was nicht ohne Folgen auf sein Verhältnis zu Rebekka blieb. Tolkiens Empfehlung, sich bei den jüdischen Kabbalisten umzusehen, brachte tatsächlich einige nützliche Hinweise. Vor allem in der so genannten »Lurianischen Kabbala« fand David Aufschlüsse, die auf ihn zwar befremdend wirkten, aber möglicherweise einen versteckten Fingerzeig auf den Kreis der Dämmerung enthalten konnten.
Diese nach Isaak ben Salomo Luria benannte Geheimlehre erklärte die Welt als Produkt einer göttlichen Ausscheidung, die Luria als »Emanation« bezeichnete. Die Gottheit selbst war für ihn ein dynamischer Fluss von vielschichtigen Kräften, das von keinem Wissen erreichbare, unwandelbare En Sof – das Unendliche.
Der Kreis! Tolkien hatte den Begriff »Ring« vorgezogen. Auch er war ein Sinnbild des Unendlichen, erinnerte sich David.
Gemäß der Lurianischen Kabbala war es im Verlaufe der göttlichen Emanation zu einer kosmischen Katastrophe gekommen, in der die Gefäße des göttlichen Lichtes zersplitterten und die Funken auf der Welt fortan in Scherben des Bösen, des Kelippoth, gefangen gehalten wurden.
Während David dies las, wanderte seine Hand wie von selbst zu seiner Brust empor, wo er schon seit Jahren einen außergewöhnlichen Kettenanhänger trug. Konnte es sein, dass der Ring Belials so eine »Scherbe des Bösen« war?
Minutenlang dachte er ernsthaft über diese Frage nach. Seine Hand hielt dabei den verborgenen Ring fest umschlossen. Nicht, dass David plötzlich zu einem Kabbalisten geworden wäre. Was dieser Luria sich da zusammengereimt hatte, war für ihn größtenteils Humbug. Aber – auch das hatte er während seiner historischen Studien gelernt: Die Gegenwart fußte auf der Vergangenheit. Das war unbestritten. Viele Legenden hatten einen wahren Kern. Religiöse Riten und Symbole waren oft Überbleibsel fast vergessener Kulte. Was würde geschehen, wenn er Vaters Siegelring zerstörte? War das der Weg, um den Kreis der Dämmerung zu besiegen? Konnte man wirklich so einfach das Böse zu Staub zermahlen oder es einschmelzen und damit das Gute befreien?
Schon neigte er dazu, diesem bequemen Gedanken Raum zu geben, aber dann wehrte sich etwas anderes in ihm, das ihn warnte. Wenn der Ring erst einmal zerstört war, dann konnte er ihn nicht mehr gebrauchen – für was auch immer. Nein, er musste weiterforschen, die Richtung weiterverfolgen, die Tolkien ihm gewiesen hatte.
Auch die Theosophie der Kabbala reichte, wie David in der darauf folgenden Zeit herausbekam, über die jüdischen Chassidim, die »Frommen«, bis in die Gegenwart. Im Gegensatz zu den Theologen bemühten sich die Theosophen ihr Wissen über Gott und die Welt auf außergewöhnlichen, mystischen Pfaden zu erwerben. Askese, Ekstase, Wahrsagerei und Spiritismus gehörten zu ihren Praktiken. Allein der Gedanke an
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