Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Tod? Verzeiht, Hoheit, wenn ich so offen spreche, aber als Engländer kann ich mir diese Situation nur schwer vorstellen: Da legt jemand King Edward nahe sich zu entleiben, weil dieser für ein paar Wochen außer Landes reisen will? Was für ein Mann ist denn dieser ›Kopf‹, dass er sich befleißigt, Euch solche Ratschläge zu geben?«
»Bisher hat er es ja noch nicht getan«, korrigierte Kaiser Meiji mit so einem heiteren Gesicht, als spräche er vom Beschneiden japanischer Kirschbäume. »Andere – hauptsächlich Angehörige der Armee und der Marine – sind seinem Ruf gefolgt. Und wenn jemand sich gar zu starrköpfig verhielt und seine Ehre nicht mit dem Kurzschwert wiederherstellen wollte, dann haben Mitsuru Toyamas Gefolgsleute auch schon mal nachgeholfen, aber… Was ist mit Euch, Earl? Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«
Auch David war die Veränderung im Gesicht seines Vaters aufgefallen. Seit Kaiser Meiji zum ersten Mal von dem Schwarzen Drachen gesprochen hatte, war dem Jungen kein einziges Wort der Unterhaltung entgangen. Er hatte zwar nur Bruchstücke des Gesagten verstanden, aber sein Gefühl verriet ihm die Wahrheit hinter dem saloppen Geplaudert Der Kaiser fürchtete den Schwarzen Drachen und Davids Vater suchte nach etwas, das er nicht offen auszusprechen wagte. Jetzt war Geoffrey offenbar fündig geworden. Warum sonst sah er mit einem Mal so blass aus?
»Vielen Dank, es geht schon«, antwortete der Earl of Camden leise. Mit zitternden Fingern führte er die Teeschale an die Lippen und nippte daran.
»Man könnte fast glauben, Euch sei der Name Mitsuru Toyamas in unangenehmer Erinnerung, Earl.«
»Zuerst dachte ich es«, antwortete Geoffrey. Das Zittern seiner Hände nahm allmählich ab. »Aber der Vorfall, an den ich denke, liegt schon über zwanzig Jahre zurück.«
»Ich weiß zwar nicht genau, wie alt Mitsuru Toyama ist. Aber vor zwanzig Jahren dürfte er nicht einmal volljährig gewesen sein. Und wenn ich Euer Alter richtig einschätze, dann wart Ihr damals wohl noch ein viel versprechender Knabe im englischen Palast Eures Vaters, Earl. Ich kann mir daher auch nicht vorstellen, dass Ihr Toyama anderswo als hier in Nippon begegnet seid.«
Geoffrey zwang sich zu einem Lächeln. »Ihr habt ein scharfes Auge, Hoheit. Ich bin für einen stellvertretenden Botschafter noch recht jung, offen gestanden erst siebenunddreißig. Aber was den Namen Toyama betrifft… Dürfte ich Euch noch etwas fragen, Hoheit?«
»Wenn es keine Staatsgeheimnisse sind«, antwortete Kaiser Meiji freundlich.
»Kennt Ihr einen Teruzo Toyama?«
»Nicht persönlich. Aber Teruzo, so sagt man, sei Mitsurus Vater gewesen. Habt Ihr Teruzo einmal kennen gelernt?«
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Geoffrey ausweichend, aber David fühlte immer noch die große Unruhe, die seinen Vater erfüllte.
Kaiser Meiji versuchte seinen Gast zu beruhigen. »Toyama ist zwar ein Schurke – und wie allen großen Gaunern kann man ihm kein Vergehen nachweisen –, aber selbst er weiß, was Japan seinen englischen Freunden zu verdanken hat. Solange Ihr also über den Thron keine Spottlieder verbreitet, wird er sich für Euch nicht interessieren.«
»Das hoffe ich«, murmelte Geoffrey mit gezwungenem Lächeln. »Aber wer kann schon wissen, was in so einem Menschen vor sich geht?«
»Manchmal trägt er mich sogar auf den Schultern.«
»Der Kaiser?« David war beeindruckt. Endlich hatte man ihn und den traurigen Jungen allein gelassen, abgesehen von den zwei Leibwächtern bei der Tür, die sie zwar beobachteten, aber sonst so stumm waren wie Buddhastatuen.
»Na ja, ich bin nicht sehr schwer.«
»Mein Vater spielt ab und zu Mühle mit mir. Kannst du Mahjongg?«
»Meister Maruo sagt, ich bin noch zu klein dazu.«
»Machst du immer alles, was er sagt?«
Hirohito zuckte die Achseln. »Meistens schon.«
»Ist das nicht langweilig?«
»Ja.«
»Und warum tust du’s dann?«
»Ich muss viel lernen, weil ich einmal Tenno werden soll.«
David nickte. »Verstehe.«
Er sah sich in dem großen Raum um, in dem sie bewegungslos am Boden saßen wie zuvor ihre Väter. Das Zimmer gehörte zu dem Palast des Prinzen, der allerdings diesen Namen kaum verdiente. Es war ein schönes, aber nicht gerade monumentales Haus im traditionellen Stil. Die Ausstattung im Raum entsprach mehr jener, die David von Yoshis Zuhause oder anderen japanischen Häusern kannte, nur war hier alles ein wenig größer und edler. Beide Jungen hatten wie üblich ihre
Weitere Kostenlose Bücher