Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
verwies aber stolz auf einige der Genro, der »weisen Staatsmänner«, die Europa bereist und teilweise sogar dort studiert hätten – der Marquis Hirobumi Ito gehöre übrigens auch zu ihnen.
Geoffrey hatte Maggy und David eingeschärft nur zu reden, wenn der Tenno etwas fragte. Als ganze Familie hier zu sitzen und an Kaiser Meijis Fernweh teilzuhaben, war sowieso schon unglaublich genug. Margrets Anwesenheit grenzte fast an ein Wunder. Anfang des Jahrhunderts verstand man Frauen nämlich noch nicht als biologisch eigenständige Organismen, sondern bestenfalls als schmückende Anhängsel ihrer Ehemänner. In Japan rangierten sie auf einer Stufe mit der beweglichen Habe. Wenn man einer Einladung nachkam, ließ man sie daher ebenso zu Hause wie seine Kochtöpfe. Unter diesen Vorzeichen mochte die Besetzung des Teekränzchens wie eine exzentrische Schrulle Kaiser Meijis anmuten. Aber das täuschte. Es war vielmehr ein großes Zugeständnis an den europäischen Earl und den Ehrengast: David.
Während nun der Kaiser dem Gespräch, wann immer er wollte, eine neue Richtung gab, hielt sich Geoffrey eher in einer flexiblen Defensive. Mal konterte er mit Witz und Intelligenz, dann wieder brillierte er durch tief schürfende Gedankengänge. Politische Themen bildeten weiterhin den Schwerpunkt.
Maggy beschränkte sich auf ehrfürchtiges Lächeln, wie man das von einer Frau erwartete. David langweilte sich. Ab und zu warf er einen verstohlenen Blick zum kleinen Hirohito hinüber, der mit ernster Miene auf der anderen Seite des Tisches zur Rechten seines Großvaters saß. Der Kaiserenkel lauschte still dem Gespräch der Erwachsenen, als müsse er darüber nachher einen schriftlichen Bericht anfertigen. Am liebsten wäre David aufgestanden und mit dem traurigen Jungen in den Garten hinausgelaufen, aber das ging natürlich nicht. Also langweilte er sich weiter.
Mit einem Mal sagte Kaiser Meiji etwas, das David aufhorchen ließ. Es war für ihn wie eine atmosphärische Störung, so als wäre gerade in seiner Nähe ein Blitz eingeschlagen. Schon als Fünfjähriger besaß er ein sehr feines Gespür für das wirkliche Gewicht einer scheinbar beiläufigen Bemerkung. Diese Sensibilität musste etwas mit seiner Gabe der Wahrheitsfindung zu tun haben. David spitzte die Ohren. Gerade hatte der Kaiser mit einem Lachen gesagt: »Ich glaube, wenn ich je ein Schiff bestiege, um in London Eurem ehrenwerten König Edward persönlich für den Hosenbandorden zu danken, dann würde mich der Schwarze Drache bei meiner Rückkehr zum seppuku zwingen.«
»Zum rituellen Selbstmord? Aber Hoheit!«, entsetzte sich Geoffrey in aller Aufrichtigkeit. »Ihr seid doch der Tenno. Euer Volk liebt und verehrt Euch. Ich weiß zwar nicht, wer dieser Schwarze Drache ist, aber was Ihr da sagt, kann ich nur als Scherz auffassen.«
»Wenn ich mir da nur so sicher sein könnte wie Ihr!«, antwortete Kaiser Meiji leichthin. »Es wundert mich, dass Ihr die Amur-Gesellschaft nicht kennt, Earl.«
Geoffrey hob die rechte Augenbraue und sein Gesicht wurde ernst. »Die Amur-Gesellschaft, sagt Ihr? Die ist mir sehr wohl ein Begriff – sofern man das von einem Geheimbund überhaupt sagen kann.«
Kaiser Meiji lächelte. »Auf dem Papier verwendet man für beide Namen die gleichen Schriftzeichen und sie stehen auch für ein und dieselbe Vereinigung.«
»Das war mir neu. Wie ich hörte, wurde die Gesellschaft Amur oder ›Schwarzer Drache‹, wie Eure Hoheit sie nannten, kurz nach dem Jahrhundertwechsel gegründet?«
»Im Jahre Meiji 34, das ist richtig. Schon zu dieser Zeit – Euch wohl eher als das Jahr 1901 geläufig – hatten sich einige Patrioten zusammengetan, um unser Land auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten. Sie sandten Kundschafter nach Sibirien und in die Mandschurei.«
»Und warum, wenn Eure Hoheit diese Frage gestatten, sollten patriotische Kundschafter« – Geoffrey gebrauchte bewusst Kaiser Meijis Ausdrucksweise, obwohl der Begriff »nationalistische Spione« ihm zutreffender erschien – »ihren Kaiser zum Harakiri zwingen wollen?«
»Weil der Kopf der Amur-Gesellschaft eine sehr individuelle Vorstellung von Vaterlandsliebe hat. Er pflegt sie wie einen tausendjährigen Bonsai. Selbst der Kaiser darf den Wuchs dieses verhätschelten Bäumchens nicht stören. Für die Patrioten ist der Tenno ein Gott und als solcher an die Grenzen Nippons gebunden. Im Ausland liefe er Gefahr sich zu beflecken.«
»Und um das zu verhindern, droht er Euch mit dem
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