Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Wortwahl ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil alle Rekonstruktionen des Turmes von Babylon – auch meine eigene übrigens – auf einem viereckigen Grundriss basieren.«
»Könnte Herodots Schilderung ein versteckter Hinweis auf die Bruderschaft beziehungsweise den Kreis der Dämmerung sein?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Eines allerdings steht fest: Als höchstes Gebäude im weiten Umkreis war die Spitze Etemenankis, des Turmes von Babylon, mit Sicherheit der Ort, an dem die Sonne am längsten zu sehen war.«
»Wo die Sonne am Horizont untergeht«, wiederholte David leise. Babylonien, auch Chaldäa genannt, galt lange als Zentrum der Himmelsbeobachtung. »Chaldäer« war im Altertum sogar zeitweise das Synonym für einen Astrologen schlechthin. Ein Gefühl der Erregung ergriff von David Besitz.
»Herr Andrae«, sagte er so beherrscht wie möglich, »Sie gehörten doch zu Robert Koldeweys Babylonexpedition. Kaum jemand kennt die Gegend dort so gut wie Sie. Außerdem haben Sie, wie ich inzwischen weiß, kistenweise Schätze von dort mitgebracht. Über die Grabung wird es doch bestimmt Aufzeichnungen geben. Ich verstehe ja, warum Sie mich nicht selbst an die Fundstücke heranlassen wollen, aber könnte ich nicht wenigstens die Ausgrabungstagebücher und Inventarlisten einsehen? Möglicherweise finde ich ja einen Hinweis, der uns die Suche wesentlich erleichtert.«
Andrae sah David mit unbewegter Miene an. Endlich seufzte er und sagte: »Also gut. Wir richten gerade eine Museumsbibliothek ein, in der Sie vielleicht die gewünschten Unterlagen finden. Ich werde Sie dort recherchieren lassen. Alles Weitere wird sich ergeben, wenn wir die Einweihung hinter uns haben. Sind Sie jetzt zufrieden, Herr Pratt?«
»Ich möchte Sie umarmen und küssen, Herr Andrae!« Der Wissenschaftler blickte David erschrocken an. »Das werden Sie schön bleiben lassen, hören Sie?«
Die Nachforschungen in den unerwartet umfangreichen Dokumentensammlungen des Pergamonmuseums und das Heranpirschen an Franz von Papen beanspruchten Davids Zeit und Kraft fast über Gebühr. Rebekka machte ihm deshalb zwar keine Vorwürfe, aber gelegentlich spürte er, wie schwer sie an dem häufigen Alleinsein trug. Eines Tages gelang es ihr dann, Fühlung mit Mia Kramer aufzunehmen. Die scheue Künstlerwitwe entpuppte sich als eine liebenswürdige ältere, außergewöhnliche Dame, die man nur etwas aus ihrer Trauer herauslocken musste. Rebekka ging dabei äußerst behutsam und geschickt vor. Sie appellierte an Mias Liebe zu den Bildern ihres Mannes.
Mal fiel die beiläufige Bemerkung, wie schön es doch wäre, wenn auch andere Menschen diese – teilweise noch nie ausgestellten – Kunstwerke sehen könnten. Dann wieder sprach Rebekka wohlwollend, aber dennoch mit kritischem Sachverstand über die Bilder und verglich sie mit Werken anderer Meister von Hieronymus Bosch über Max Ernst bis hin zu Salvador Dali. In den sich daran anbahnenden Gesprächen begann Mia regelrecht aufzublühen. Auch sie besaß profunde Kenntnisse der zeitgenössischen Malerei. Und außerdem ein Klavier. Ersteres lieferte den beiden Frauen immer ein Thema für die Unterhaltung, Letzteres dem ganzen Haus bald bezaubernde Klänge.
Rebekka war überglücklich, als ihre Finger endlich wieder über die weißen und schwarzen Elfenbeintasten tanzen durften. Nur die Joleite regte sich über die vermeintliche »Ruhestörung« auf, auch wenn die »Amerikanische« – also Rebekka – mit ihrem Klavierspiel nie gegen die Hausordnung verstieß. Für die übrigen Mieter am Richardplatz 4 waren die Etüden und Sonaten aus dem dritten Stock aber eher eine Bereicherung, weshalb der Protest der Joleite bald im Sande verlief. Die grimmige Alte sann auf Rache.
»Mach dir nichts draus, Kindchen«, tröstete Ester die begabte Pianistin. »Wenn Onkel Carl sonntags sein Grammophon ankurbelt, meckert die Joleite auch immer.« Und dann fügte sie hinzu: »Könntest du meiner Sara eigentlich Unterricht geben?«
Die Frage ließ Rebekkas Herz höher schlagen. Sie habe schon japanischen Damen das Französische beigebracht und dabei ihre Neigung für den Lehrberuf entdeckt. Kinder an die Musik heranzuführen sei schon immer ihr Traum gewesen. Damit war der Unterricht für Sara beschlossene Sache.
Bald kamen weitere Kinder aus der Nachbarschaft hinzu, und während Rebekka ihren stupsnasigen Schülern Mozart, Beethoven und Liszt näher brachte, kehrte Mia Kramer ganz allmählich ins Leben
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