Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Chicago. So hatte das Paar einen guten Überblick über die erwachende Stadt. Es war ein ungewöhnlich frischer Morgen, wie Dampflokomotiven stießen die Menschen kleine Wölkchen aus. Überall hingen noch Plakate vom letzten Wahlkampf. Auf erschreckend vielen war Hitlers Kopf zu sehen. Von manchen blickte er entschlossen und siegesbewusst wie ein antiker Feldherr herab. Am letzten Sonntag war abgestimmt worden. Dank sozialdemokratischer Unterstützung war Hindenburg am 10. April 1932 im zweiten Wahlgang mit dreiundfünfzig Prozent im Amt des Reichspräsidenten bestätigt worden. Der dreiundvierzigjährige Hitler erlitt einen cholerischen Anfall, weil er sich einem fast doppelt so alten Gegner geschlagen geben musste.
»Immerhin hat der Schnauzbart aus Braunau am Inn mehr als ein Drittel der Wählerstimmen auf sich vereinigt«, sagte David besorgt, während er und Rebekka aus dem Zugfenster sahen.
»Vielleicht wittert Papen schon Morgenluft, jetzt, wo sein Förderer noch fester im Sattel sitzt. Welche Pläne er auch immer schmiedet, sie würden in Gefahr geraten, wenn du die Kugel wieder in deine Gewalt bringst.«
»Klingt überzeugend.« David streichelte Rebekkas Wange. »Hat sich Papen im Glanz des Wahlsieges seines väterlichen Freundes tatsächlich zu einer Unvorsichtigkeit hinreißen lassen, dann können wir ihn jetzt als Logenbruder Belials entlarven.«
»Aber nur, wenn Schleicher die Kugel an Papen weiterreicht. Wolltest du nicht sowieso mit Schleicher ein Interview vereinbaren?«
David hob die Schultern. »Hat bisher leider nicht geklappt. Edgar sagte schon, wie sehr sich Kurt von Schleicher in der Rolle des Drahtziehers im Hintergrund gefällt. Er scheut den Kontakt zu allen Journalisten, von denen er nicht im Voraus weiß, was sie über ihn schreiben werden. Aber jetzt, nach dem Anruf von Rix, hat dieses Treffen für mich oberste Priorität. Ich muss wissen, was dieser Schleicher mit der Kugel im Schilde führt. Denn dass sie sich seit heute früh in seinem Haus befindet, daran gibt es für mich keinen Zweifel Sie darf seine Villa auf keinen Fall wieder verlassen, es sei denn, ich selbst trage sie hinaus. Von jetzt an müssen wir ihn rund um die Uhr beschatten. Sollte er sich mit Papen treffen, muss ich das unbedingt erfahren.«
Eine Weile lang saßen David und Rebekka schweigend nebeneinander, hingen ihren Gedanken nach und blickten aus dem Zug.
»Woher hat Richard Seybold eigentlich diesen komischen Spitznamen?«, fragte Rebekka unvermittelt.
David lächelte. »Rix, meinst du? Genau dieselbe Frage habe ich ihm auch schon gestellt. Die Antwort ist ganz einfach: Vor 1912 hieß der Stadtteil Neukölln noch Rixdorf, was eigentlich ›Richards Dorf‹ bedeutet. Aber du weißt ja, wie die Berliner sind: Für alles und jeden müssen sie eine griffige Abkürzung finden. Irgendwann hat einer Richards Namen dann genauso zusammengestrichen.« David blickte kurz aus dem Fenster und erhob sich von der Bank. »An der nächsten Station müssen wir aussteigen.«
Vom Bahnhof ließen sich die beiden mit einem Taxi in die Nähe von Schleichers Anwesen fahren. Am vereinbarten Treffpunkt, einem Gebüsch in Sichtweite des besagten Hauses, stießen sie auf Richard Seybold. Der befreundete Nachbar erzählte ihnen ausführlich von den Ereignissen der letzten Stunden. Horthys Sohn halte sich nach wie vor in dem Gebäude auf.
»Möchte wissen, was er so lange da drinnen macht«, murmelte Rebekka.
»Da gibt’s tausend Möglichkeiten: Schleicher und seine Gemahlin könnten noch geschlafen haben, als dieser Gyula eintraf, oder aus irgendeinem anderen Grund nicht sofort in der Lage gewesen sein, Besuch zu empfangen. Vielleicht stopft der General auch gerade vor lauter Freude über die Kugel Süßigkeiten in den Jungen. Oder er schreibt einen Antwortbrief an den Vater…«
»Möglicherweise telefoniert er mit Papen oder wer immer dessen Auftraggeber ist.«
David schluckte schwer. »Nur das nicht! Wir müssen so schnell wie möglich etwas tun, um Schleicher davon abzuhalten!«
»Aber wat?«, grübelte Richard.
Rebekka legte David die Hand auf den Arm. »Da! Die Tür am Haus ist aufgegangen. Der Junge kommt heraus, zusammen mit einem Mann.«
Alle blickten zur Villa hin.
»Das ist Kurt von Schleicher«, stieß David hervor. »Ich kenne ihn von Fotos.«
Schleicher lächelte – so weit man das auf die Entfernung hin erkennen konnte – und tätschelte Gyula den Kopf. Laszlo Horthys Sohn steckte einen länglichen weißen
Weitere Kostenlose Bücher