Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Mia Kramer informieren. Martin Niemöller, der Pastor aus Dahlem, hatte David Dr. Singvogel empfohlen. Er sei nicht in der Partei – was durchaus auch von Nachteil sein könne –, aber ein sehr fähiger Mann.
Lustlos blätterte David in einer der ausliegenden Zeitungen. Japan sei am gestrigen Tag aus dem Völkerbund ausgetreten, hieß es da.
Er seufzte. Anscheinend wollten sich die Militärs nicht länger gängeln lassen. Wie wohl Hito darüber dachte? Seine Regierung stand unter der Devise Showa, »Leuchtender Friede«. Nun hatte sein Land der Institution eine Absage erteilt, die für sich die Verteidigung des Weltfriedens beanspruchte. Seit seiner Gründung war der Völkerbund mit der Umsetzung dieser Aufgabe wenig erfolgreich gewesen.
Zeitungen, die David nicht mochte – und dazu gehörte jede Art von Wartezimmerlektüre –, blätterte er grundsätzlich von hinten nach vorne durch. So kam es, dass er die wichtigste Nachricht des Tages erst lange nach dem kurzen Bericht über Japans Völkerbundaustritt las:
AUFRUF ZUM JUDENBOYKOTT
Fassungslos überflog David den Artikel. Die Nationalsozialisten riefen das deutsche Volk dazu auf, nicht mehr in jüdischen Geschäften einzukaufen, sich von jüdischen Ärzten behandeln oder von jüdischen Handwerkern Arbeiten verrichten zu lassen. Lange genug habe man unter der Knute der jüdischen Zinsknechtschaft gestanden und fast den wirtschaftlichen Niedergang des Reiches erleben müssen, damit solle nun ein für alle Mal Schluss sein.
Völlig benommen stolperte David kurz darauf einer Kanzleigehilfin hinterher, die ihn zu Dr. Singvogel dirigierte. Der Anwalt übte sich in verhaltenem Optimismus. Für ihn sei der Fall klar: Mia Kramer könne kein vorsätzlicher Mord angehängt werden, vermutlich nicht einmal Totschlag. Nur die Gesamtkonstellation sei ein wenig ungünstig, schränkte er ein, als spräche er von einem Horoskop. Eine treue NSDAP-Genossin sei von der Witwe eines Künstlers zu Tode gebracht worden, dessen Werk nicht dem Ideal »arisch-rassischer Größe« der nun Regierenden entspräche.
David verbürgte sich dafür, sämtliche Anwaltskosten zu übernehmen, obwohl ihm dieses Angebot Sorgen bereitete. Seine Ersparnisse schmolzen wie Schnee in der Sonne und die Honorare von Time waren auch nicht gerade berauschend. Dr. Singvogel versprach für die Klientin und ihren Gönner sein Bestes zu tun. Als wenn er das nicht immer täte.
Der »Judenboykott« traf Chaim sehr hart. Seit der Machtergreifung schon ließen sich die Auswirkungen der nationalsozialistischen Propaganda nicht mehr verleugnen, aber jetzt ging es wirklich an die Substanz.
Als David am Morgen des 1. April das Haus verließ, um eine Zeitung, frische Brötchen sowie bei Lindner ein Stück lose Butter zu kaufen, kam ihm die Veränderung zunächst wie ein schlechter Aprilscherz vor. Es gab nicht wenige von Juden geführte Geschäfte, aber alle, die er kannte, waren von dem Boykott betroffen.
Um sich ein besseres Bild von der neuen Situation zu machen, unternahm er einen kleinen Spaziergang. Erst lief er ein Stück die Neuköllner Bergstraße hinauf Richtung Norden und später wieder die Richardstraße zurück. Überall das gleiche Bild. Auch vor Chaim Blumenthals Buchladen.
Deutsche!
Wehrt Euch!
Kauft bei Juden!
Das großformatige, auf das Schaufenster geklebte Plakat war wirklich nicht zu übersehen. Damit auch die Intellektuellen diese Aufforderung richtig verstanden, klebte gleich darunter ein zweiter Appell:
Deutsche,
verteidigt Euch gegen die jüdische Gräuelpropaganda,
kauft nur bei Deutschen!
Für die Analphabeten unter der NSDAP-ergebenen Bevölkerung gab es noch eine dritte Hilfestellung.
»Können Se nich lesen, wat da steht?«, erkundigte sich ein SA-Mann in rüdem Ton, als David sich anschickte den Buchladen zu betreten. Der braune Posten versperrte mit seiner beachtlichen Leibesfülle fast den Eingang. Seine Frage unterstrich er mit einem über die Schulter zeigenden Daumen.
David spielte den Ahnungslosen und lächelte. »Wieso? Ich halte mich doch streng an den Aufruf.«
Der SA-Posten machte ein böses Gesicht, drehte sich dann aber doch zu dem plakatierten Schaufenster um. Der oberste Anschlag drückte sich nun ganz unmissverständlich aus:
Deutsche!
Wehrt euch!
Kauft nicht bei Juden!
Der zweite Anschlag sprach weiterhin nur die Akademiker unter der Bevölkerung an:
Deutsche
Gräuelpropaganda nur bei Deutschen
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