Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
unauffällig zu dem Ledermantel hinüberzuspähen. Er stand im nächsten Waggon, klammerte sich an eine Haltestange dicht bei der Tür und starrte zu ihnen herüber. Der Mann musste ein Nervenbündel sein. Jederzeit auf dem Sprung. Zwischen ihnen lag eine ganze Waggonbreite, andauernd standen Leute auf, setzten sich, versperrten die Sicht. Genau so hatte sich David das gedacht.
Am Ende des Wagens, dort, wo David, Rebekka und Pünktchen sich befanden, gab es keine Bänke. Hier konnten Koffer abgestellt werden. Oder eben Leute, wenn in Stoßzeiten alle Sitzplätze belegt waren. Im Moment herrschte ziemlich viel Betrieb. Am Sonntagabend ging doch der eine oder andere noch aus, jetzt wo die Weltwirtschaftskrise praktisch überwunden war.
Als der Zug im Bahnhof Gneisenaustraße hielt, kam David und Rebekka das Glück zu Hilfe. Eine Gruppe von acht oder zehn Personen schob sich in den Waggon. Sogar ein Hund war dabei! Ein Dobermann! David konnte es kaum fassen. Im Nu gab es Gedränge am Ende des Wagens: Die Männer und Frauen wollten zwar nicht zusammensitzen, hatten aber anscheinend unheimlich wichtige Dinge miteinander zu besprechen.
»Schon jehört, Else, die Leni Riefenstahl dreht ‘ne Fortsetzung ssu ihrem Fest der Völker.«
»Lass mich bloß damit in Frieden, Hilde. Ich kann das Wort Olympiade schon nicht mehr hören. Ob Goebbels sich den Titel für Lenis neuesten Propagandastreifen persönlich ausgedacht hat? Fest der Schönheit! Scheußlich. Als Nächstes kommt vielleicht noch Fest des deutschen Blutes. Da lob ich mir ‘nen spannenden Film mit Hans Albers. Hast du übrigens schon Varieté gesehen?«
»Nee, aber in Bomben auf Monte Carlo fand ich ihn so richtig zum Anbeißen. Oder in…«
»Kleistpark.«
Die Stimme des Bahnhofswärters klang unbeteiligt, mechanisch. David hatte die munter plaudernde Gruppe mehrere Stationen lang aufmerksam beobachtet – und immer wieder Pünktchen zurückgehalten, die sich brennend für den Dobermann interessierte. Jetzt wollten vier weitere Personen einsteigen, andere Fahrgäste hatten sich von ihren Bänken erhoben und drängten nach draußen.
Jetzt oder nie. David gab Rebekka ein Zeichen mit den Augen. Am Ende des Waggons herrschte für Sekunden ein heilloses Durcheinander. Und niemand bemerkte die Veränderung. Unter den Aussteigenden befanden sich auch ein Mann in dunkelblauem Anzug und eine Frau in sandfarbenem Kostüm. Er führte einen schwarzbraunen Hund an der Leine.
Vermutlich würde der Ledermantel stutzen, sein Hals immer länger werden. Panisch würden seine Augen durch das Glas der beiden Verbindungstüren in den Nachbarwaggon starren. Aber dann musste er den hellgrauen Anzug entdecken, das rosafarbene Kostüm und einen gepunkteten Dobermann…
Der Zug fuhr ab. Sollte Ledermantel doch noch Misstrauen geschöpft haben, so war es jetzt zu spät. Während sein Wagen an dem Paar auf dem Bahngleis vorbeirollte, betrachtete dieses gerade hingebungsvoll ein Plakat mit dem im letzten Jahr vorgestellten Volkswagen. Ihre Gesichter waren abgewandt.
Als die Rücklichter des Zuges im Tunnel verschwanden, liefen David, Rebekka und Pünktchen die Treppe hinauf In einem unbeobachteten Augenblick nahmen Kleidung und Fell wieder die alten Farben an.
»Was wird aus dem Dobermann und seinem Herrchen?«, fragte Rebekka, rein interessehalber.
David zuckte mit den Schultern und antwortete mit einem bedauernden Lächeln: »Das Herrchen kann ja den hellgrauen Anzug weggeben, wenn er ihm nicht gefällt, aber der Hund wird wohl eine Weile mit seinem neuen Fell leben müssen, bis die alte Zeichnung nachwächst. Ich kann nur die Farbe von Dingen verändern, die ich sehe oder die sich zumindest direkt um mich herum befinden.«
Sie bestiegen das nächstbeste Taxi und ließen sich zum Anhalter Bahnhof bringen.
Dann dauerte es nicht lange und sie hatten Berlin verlassen. David und Rebekka lagen in einer Koje des Schlafwagenabteils, die selbst für eine Person schon schmal genug gewesen wäre. Aber gewisse Unbequemlichkeiten hatten Rebekka noch nie abgeschreckt, ganz im Gegenteil. Im Augenblick träumte jeder vor sich hin, wohl selbst der am Boden schlummernde Hund, der ab und zu merkwürdige Laute von sich gab. Zu viel war in den letzten Tagen und Stunden geschehen, das erst einmal verarbeitet werden musste.
Erst gestern hatte ein Brief den beiden einen Schock versetzt. Er war mit der normalen Post gekommen und stammte von Dr. Singvogel, dem Anwalt von Mia Kramer. Der Inhalt des
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