Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Freitagmorgen blieben David und Rebekka etwas länger im Bett. Es war zwar ziemlich schmal, aber das hatte Rebekkas wieder erwachtem Liebeshunger keinen Abbruch getan, eher im Gegenteil. Das Dessert war in mehreren Gängen serviert worden.
Gegen zehn schlug David die Augen auf. Rebekka lag an ihn geschmiegt. Sie strahlte eine wohlige Wärme aus. Am liebsten wäre er nie aufgestanden, aber aus der Wohnung unter ihnen drang eine nervtötende Radiostimme herauf. Einzelne Wörter wurden nicht nur besonders betont, sondern auch wiederholt gebraucht: »Polen«, »Überfall« und »Wehrmacht« waren zu verstehen.
Aus den Tiefen von Davids Bewusstsein kroch eine dunkle Ahnung hervor wie ein schleimiges kaltes Ungeheuer. Er versuchte sich vorsichtig von Rebekka zu lösen, aber sie wurde trotzdem wach.
»Was ist?«, fragte sie schlaftrunken, erst dann fegte sie mit der Hand den schwarzen Haarvorhang zur Seite, der ihr Gesicht bedeckte.
»Wenn ich das wüsste! Ich habe so eine Unruhe in mir. Komm, ziehen wir uns an und gehen irgendwo frühstücken.«
Rebekka tauchte wie eine Meerjungfrau aus den Wellenbergen des Bettzeugs auf. »Aber ich kann doch für uns Kaffee kochen. Brötchen habe ich schon gestern gekauft. Wir könnten im Bett…«
Ihr Anblick machte es David schwer, Nein zu sagen. Er beugte sich zu ihr herab, küsste sie liebevoll, blieb aber fest. »Heute früh machen wir’s wie die feinen Leute und lassen uns bedienen. Außerdem möchte ich mich ein bisschen umhören.«
»Gibt es dafür denn einen besonderen Anlass?«, fragte sie enttäuscht und zog einen unwiderstehlichen Schmollmund.
»Hörst du von unten diese Stimme aus dem Radio? Ich habe ein paar Satzfetzen mitbekommen, denen ich gerne auf den Grund gehen würde.«
Während Rebekka sich noch im Schlafzimmer herrichtete – über ein eigenes Bad verfügte Ferdinands Wohnung nicht –, legte David sein Schattenarchiv wieder in den »Schatzkoffer« zurück. Er hatte am vergangenen Abend aus nahe liegenden Gründen darauf verzichtet. Wenig später spazierte das Paar zum Fischmarkt hinüber, wo sie sich in einem kleinen Lokal Schinkenomelettes bestellten.
David war jedoch weniger an dem Essen interessiert als an den Neuigkeiten des Tages. Auf dem Weg zum Fischmarkt kam ihm das Viertel irgendwie verändert vor, ohne dass er sich genau erklären konnte, weshalb. Waren die Straßen leerer als sonst oder das Lebensmittelgeschäft an der Ecke voller?
Die Ungewissheit sollte nicht lange bestehen bleiben. Im Frühstückslokal stand ein Volksempfänger, aus dem sich ein zäher Strom klassischer Musik ergoss. Unvermittelt fegte eine durchdringende Männerstimme die schwermütigen Klänge beiseite. Wenige Sätze später rutschte Rebekka die Gabel aus der Hand und fiel scheppernd auf den Teller.
Schon in den letzten Tagen hatten die Propagandablätter des »Führers« von Gräueltaten an Deutschen im so genannten »polnischen Korridor« berichtet. Angesichts des Heißhungers Hitlers auf neue Staatsgebiete bezweifelte David solch selbstmörderische Aktionen der Polen. Er hielt das Ganze für eine groß angelegte Inszenierung, die nur einem Zweck dienen konnte: Deutschland einen Grund zum Überfall auf den Nachbarn zu liefern. Vermutlich steckten die Totenkopfeinheiten der SS dahinter.
Die Krise hatte am Vortag einen Höhepunkt erreicht, als im Reichsrundfunk bekannt gegeben worden war, reguläre Einheiten der polnischen Armee hätten einen Angriff gegen den deutschen Sender Gleiwitz in Schlesien durchgeführt. Diese »polnischen Grenzverletzungen« würden nicht hingenommen, hatte es geheißen. Das Ganze klang in Davids Ohren doch sehr nach nationalsozialistischem Schmierentheater. Man suchte offenbar händeringend nach einem Kriegsgrund, hatte er Rebekka erklärt.
»Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen«, tönte nun die Stimme des »Führers« aus dem Volksempfänger, ein Mitschnitt seiner Rede vor dem Marionetten-Reichstag.
»Was bedeutet das?«, fragte Rebekka. Ihr Gesicht war ganz blass geworden.
David warf die Serviette auf den Tisch. Ihm war der Appetit vergangen. »Krieg. Zumindest zwischen Deutschland und Polen. Aber ich fürchte, diesmal wird Hitler sich nicht durchmogeln können wie im Fall Österreich oder bei der Annektierung der Tschechei. Erst vor gut einem Monat hat Chamberlain die britisch-französische Garantieerklärung vom März in einen Beistandspakt mit Polen umgemünzt. Großbritannien und Frankreich müssen sich an
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