Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
arbeitenden Geist vor.
»Und wenn die ganze Welt auseinander bricht, Sean:
Ich bleibe hier und suche nach Rebekka. Nur ihr Tod könnte mich dazu bringen, dieses Land zu verlassen.«
»Du bist vielleicht ein sturer Kerl!« Sean fluchte. »Ist dir auf dem Weg in mein Büro nicht die Hektik aufgefallen, die hier überall herrscht? Willst du den Grund dafür wissen? Ich werd’s dir verraten. Sie packen, David. Heute Abend noch wird die Gesandtschaft geräumt, und wenn du willst, kannst du mit nach England reisen. Sobald die Kriegserklärung raus ist, betrachtet doch dieser Irre in der Reichskanzlei alle britischen Staatsbürger als Freiwild. Zum Abschuss freigegeben. In diesem Land gibt es kein Recht des Einzelnen auf eine faire Behandlung. Schon lange nicht mehr. Hitler bringt es fertig und erklärt alle Bürger des Vereinigten Königreiches, die sich morgen noch auf deutschem Territorium befinden, zu Geiseln. Was glaubst du, wie viel Chancen dir dann noch bleiben, Rebekka zu finden? Du hast es mir doch selbst erzählt: Wie ein aufgescheuchtes Huhn bist du durch die Stadt gerannt. Nach spätestens achtundvierzig Stunden hätte man dich verhaftet.«
Sean holte tief Luft. Er hatte laut gesprochen. Eindringlich. Mit aller Überzeugungskraft. Und seine Standpauke schien Wirkung zu zeigen.
David blickte wie ein geprügelter Hund zu ihm auf und erwiderte: »Du hast ja Recht.« Der Attaché wollte schon erleichtert aufatmen, aber da sah er dieses bedrohliche Flackern in den Augen des anderen und mit einem Mal sagte David: »Trotzdem bleibe ich hier. Ich habe Rebekka wiederholt gesagt, dass sie bei mir sicher ist, und ihr geschworen, ich würde ihr beistehen, was immer auch geschieht. Es geht nicht, Sean. Ich kann nicht einfach einen Zug oder ein Schiff nehmen und sie hier allein lassen. Danke, dass du dir für mich Zeit genommen hast.« David erhob sich von seinem Stuhl.
»Aber… Wo willst du denn hin?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»David! Du besiegelst damit dein Todesurteil, Es gibt nach wie vor Anlass zu der Befürchtung, dass wir hier bei uns einen Maulwurf haben, aber wir wissen nicht, wer dieser Spion ist. Sollte er dich jedenfalls beim Hereinkommen gesehen haben, dann könnte das Konsulat jetzt schon von Spitzeln umstellt sein, die einzig und allein auf dich warten.«
»Das ist mir egal Wenn sie mich kriegen, sterbe ich wenigstens in demselben Land wie Rebekka.«
Sean streckte die Handflächen gegen David aus und schüttelte den Kopf. »Nun warte noch einen Augenblick. Vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit, Rebekka zu helfen.«
Davids Augenbrauen zogen sich zusammen. »Warum sagst du mir das erst jetzt?«
»Weil du mir bisher keine Gelegenheit dazu gegeben hast.«
»Was ist das für eine Möglichkeit?«
»Bitte setz dich erst wieder hin. Diese Angelegenheit sollte man nicht zwischen Tür und Angel besprechen.«
David gehorchte.
»Möchtest du eine Tasse Tee? Ach was… Ich bring dir einfach eine.«
Bevor David widersprechen konnte, war Sean schon aus dem Raum. Als er endlich zurückkehrte, trug er in der Hand ein Tablett mit zwei dampfenden Tassen, Milch und Zucker.
»Entschuldige, David. Hat ein bisschen länger gedauert. Der Tee musste frisch aufgebrüht werden.«
»Schon gut. Könntest du mir jetzt bitte auf der Stelle erzählen, was du mit dieser Andeutung vorhin gemeint hast? Was kannst du für Rebekka tun?«
Sean reichte David eine der Tassen, schaufelte einen Löffel Zucker in die eigene, goss Milch dazu und rührte um. »Milch und Zucker?«
David schüttelte den Kopf. Sein Gesichtsausdruck verriet allerhöchste Ungeduld.
»Also«, begann Sean, »es gibt da einen Anwalt in Hamburg, mit dem wir schon des Öfteren zusammengearbeitet haben.«
David nahm einen Schluck aus der Tasse. Anscheinend kochte in Hamburg das Wasser schon bei achtzig Grad: Der Tee war gar nicht richtig heiß, dafür aber umso bitterer. Während Sean weitererzählte, nahm David nun doch etwas Zucker.
Dr. Lars Sibenius habe schon die Freilassung einer ganzen Reihe von Juden sowie einiger anderer Personen aus deutschen Konzentrationslagern vermittelt. Auch die Nazis seien vor Geldgier nicht gefeit, ganz im Gegenteil. Für Hitler sei ein KZ-Häftling in erster Linie ein Zwangsarbeiter, dessen Wert sich nach der Leistung bemaß, die er erwirtschaftete. War er verbraucht – erfüllte er also wegen Krankheit oder aus irgendwelchen anderen Gründen nicht mehr die geforderten Vorgaben – , wurde er umgebracht.
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