Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
ich im Leben allein geblieben, hätte er mir nie diesen Schmerz zufügen können. »Es war auch dein Enkelkind, Marie.«
Das Dienstmädchen zog ein Tuch aus der Tasche ihres Nachthemdes und schnäuzte hinein.
»Das weiß ich«, antwortete die Ärztin mit ausdruckslosem Gesicht, »Und glaube nicht, es würde mir nichts ausmachen. Für uns Juden sind Kinder Geschenke Gottes, Es gibt kaum eine verwerflichere Tat, als ein solches zu stehlen.«
»Ist es… Ich meine, konnte man schon erkennen, was es einmal werden würde?«
»Es war ein Junge, David. Schon ein richtiger kleiner Mensch.«
»Kann ich ihn sehen?«
Marie zögerte. »Ich weiß nicht. Du bist noch sehr geschwächt. Vielleicht solltest du deiner wunden Seele diesen Anblick ersparen.«
»Sie hat schon so viel Leid ertragen müssen, Marie! Ich möchte meinen Sohn wenigstens ein einziges Mal anschauen. Bitte!«
»Na gut. Der Kleine befindet sich unten, in meiner Praxis. Rebekka liegt momentan auch noch dort. Lass mich nur schnell deinen Arm ruhig stellen, dann können wir hinuntergehen.«
Nachdem Davids Bruch gerichtet und seine Schulter eingebunden war, begab er sich in Begleitung Maries in das Erdgeschoss. Rebekka schlief tief und fest. Antoinette wachte jetzt an ihrem Bett. David streichelte die blasse Wange seiner Frau, schluckte schwer und flüsterte heiser: »Ich bin gleich wieder bei dir, Schatz. Lass mich nur kurz unser Kind besuchen gehen.«
Der Fötus lag auf einem Tisch, eingewickelt in ein weißes Leinentuch. Behutsam schlug David den Stoff zur Seite. Als er den winzigen Körper erblickte, brach er fast zusammen. Sein Gesicht war von Gram verzerrt, der Kopf hing schwer herab, er zitterte. Wieder musste er weinen. Es kostete ihn viel Kraft, nicht einfach laut loszuschreien. Nur ein erstickter Laut entrang sich seiner Kehle. David zwang sich, das Kind noch einmal anzuschauen.
Die Haut des Knaben wirkte fast durchsichtig, der Kopf unverhältnismäßig groß, aber da lag unverkennbar ein fertiger kleiner Mensch. David wischte sich mit dem Ärmel seines Morgenrockes die Tränen aus dem Gesicht und mit einem Mal lächelte er. Vor ein paar Stunden hatte dieses faszinierende kleine Wesen noch mit ihm gesprochen, zwar nur durch »Klopfzeichen«, aber von unbändiger Lebenskraft beseelt.
»Aus dir wäre einmal ein prächtiger Mensch geworden«, sagte David zärtlich zu dem reglosen Kind. »Ich weiß nicht, ob es dich tröstet, aber derjenige, der dir das angetan hat, lebt nicht mehr. Ich wünschte, wir könnten die Uhr noch einmal um vier Stunden zurückdrehen, mein Kleiner, dann…«
»David! Er kann dich nicht hören.«
Marie hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt. Als er sich umwandte, sah er ihre Tränen. Vor ihm stand nicht mehr die Ärztin, die eine Krankheit behandelte, sondern die Mutter und Großmutter, die mit den Ihren litt. David drückte sie vorsichtig mit dem gesunden Arm an sich und für eine lange Zeit spendeten sie sich gegenseitig Trost, allein durch ihre Nähe.
»Jetzt wird es Zeit, dass wir uns um die Lebenden kümmern«, sagte David entschlossen, als Marie endlich aufgehört hatte zu weinen.
Gemeinsam gingen sie in das Nebenzimmer, in dem Rebekka auf einem rollbaren Krankenbett lag und schlief. Antoinette saß neben ihr auf einem Stuhl und schlief ebenfalls. Ihr Oberkörper war halb über Rebekkas Beine gerutscht.
Marie weckte das Dienstmädchen sanft auf und schickte es hinaus. David nahm den Platz neben dem Bett ein und ergriff Rebekkas Hand. Sie fühlte sich warm an, lebendig. Erst jetzt ließ die furchtbare Anspannung ein wenig nach. Der Mörder seiner Eltern und vieler anderer hatte endlich die verdiente Strafe bekommen. Ob dem Kreis der Dämmerung dadurch womöglich eine schwere Wunde zugefügt worden war, interessierte David im Augenblick wenig. Rebekka lebte! Sicher, der Tod des Kindes war ein weiterer furchtbarer Verlust für ihn, aber den wertvollsten Menschen in seinem Leben hatte Negromanus ihm nicht rauben können.
Die stille Erleichterung über Rebekkas Rettung begann in den kommenden Tagen einer neuen Unruhe zu weichen. David empfand keine Freude über das Ableben seines mächtigen Feindes. Einerseits war der Preis, den er für diesen Sieg hatte zahlen müssen, viel zu hoch gewesen und andererseits schwelte da ein Gefühl der Verunsicherung in ihm. Die letzten Worte des Schemens mochten vielleicht nur eine leere Drohung gewesen sein, aber sie konnten genauso gut auch eine noch viel gnadenlosere Jagd durch
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