Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Leopardi, einem alten Förderer von Rebekkas Mutter aus deren Sorbonner Studienzeit. Bei Kriegsbeginn war der Medizinprofessor nach Mailand zurückgekehrt. Jetzt genoss er in seiner Geburtsstadt den Ruhestand. David war zunächst skeptisch gewesen, ob der angesehene Mediziner sie überhaupt aufnehmen würde, aber Marie hatte ihn beruhigt.
Giovanni Leopardi war eine schillernde Persönlichkeit: schlank, mittelgroß, gezwirbelter Schnurrbart, an die siebzig Jahre alt, mal schrullig, dann wieder weltgewandt und gelinde gesagt ziemlich unkonventionell. Seine graue Haartracht schien er von Beethoven, die nonchalante Kleidung eher von dem futuristischen Bildhauer Umberto Boccioni entliehen zu haben. Markenzeichen des Professors war ein knallrotes Halstuch, das er meist über einem weißen, viel zu großen Leinenhemd trug. Dazu kam dann noch eine schwarze wollene Pumphose. Dieser starke Farbkontrast wurde auf Taillenhöhe noch durch eine knallgrüne Bauchbinde bereichert. Professore Leopardis Füße steckten gewöhnlich in jener Art schwarzer mediterraner Stoffschuhe, wie sie auch die sardischen Fischer bei der Ausübung ihres Berufes trugen. Auf Socken verzichtete der Alte allerdings völlig. David konnte sich diesen witzigen und zugleich nachdenklichen Menschen beim besten Willen nicht als sezierenden Weißkittel vorstellen, aber vielleicht war ja gerade das der Grund, weshalb Leonardi zu Beginn des Jahrhunderts einer Frau in den Ärztestand verholfen hatte.
»Ich freue mich immer, wenn ich junge Menschen um mich habe«, erklärte der Professor mit heiterer Miene gleich nach der Ankunft seiner Gäste. Er sprach ein fast akzentfreies Französisch. »Deshalb bin ich ja Lehrer geworden. Ab und zu wohnen Studenten bei mir, denen ich mich besonders widme. Nicht ganz so wie Leonardo da Vinci«, er kicherte bedeutungsvoll und zwinkerte Rebekka zu, »aber Ihre Mutter kennt diese Marotte von mir und hat mich wohl deshalb um diese kleine Gefälligkeit gebeten. Sie gehörte übrigens zu meinen besten Schülern, Mme. Cournot!« Jetzt lachte er eher still in sich hinein. »Schülerinnen, müsste ich wohl sagen, aber bei den wenigen jungen Damen, die ich unterrichten durfte, würde ich Maries Leistungen damit nur schmälern. Sie hat damals auch die meisten ihrer männlichen Kommilitonen mit Leichtigkeit überflügelt. Später verfolgte ich ihren Werdegang mit Interesse und Genugtuung. Ihre Mutter und ich haben uns nach dem Krieg noch einige Male gesehen. Es ist schön, heute endlich auch ihre Tochter kennen lernen zu dürfen.«
»Sie sind sehr freundlich«, antwortete Rebekka etwas schüchtern. »Auch wegen des Zimmers, das Sie an uns abtreten wollen.«
»Keine falsche Bescheidenheit. Bei mir logiert sowieso gerade niemand und meine Haushälterin ist eine alte Schachtel, die seit zwanzig Jahren kommt und geht, wie es ihr beliebt. Zurzeit interessiert sie die Hochzeit Umbertos mehr als meine schmutzigen Töpfe und Tassen.«
»Umberto? Ist das ihr Enkel?«
Wieder lachte der Professor. »Entschuldigen Sie, Madame, ich lache Sie nicht aus. Sie sind ja gerade erst aus Paris angereist, dort beschäftigt man sich vielleicht nicht so sehr mit der italienischen Aristokratie. Nein, ich rede von unserem Kronprinzen. Umberto wird morgen Maria Jose von Belgien ehelichen. Und Caterina ist dann vermutlich für den Rest der Woche arbeitsuntauglich.«
»Caterina? Ich denke, dabei handelt es sich jetzt nicht um die Königin.«
»In meiner Wohnung benimmt sie sich zwar manchmal so, aber eigentlich ist sie nur meine Haushälterin.«
Jetzt mussten alle lachen.
Giovanni Leopardi erwies sich in den nächsten Wochen als hingebungsvoller Gastgeber. Natürlich konnte er auch seine italienische Wesensart nicht verbergen: Er war temperamentvoll, liebte das Schöne und verstand es, jedwede Arbeit auf die Frauen abzuschieben. Rebekka war sogar dankbar dafür, dass sie hin und wieder der wortgewaltigen Caterina Cecchetti helfen konnte. David hingegen ging in seinen Nachforschungen auf. Wenn Leopardis Schwergewichtige Haushälterin gegen den Staub kämpfte, tat jeder Mann in der Wohnung gut daran, ihr nicht in die Quere zu kommen.
In den folgenden beiden Wochen lief David – meist allein, manchmal in Begleitung Rebekkas – mehr oder weniger planlos durch die von Kunstschätzen nur so überquellende Stadt. Dabei musste er bestürzt feststellen, dass die Italiener, respektive ihre lateinisch sprechenden Vorfahren, das Attribut palatina mit geradezu
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