Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
besorgte Bemerkungen fallen, über die Missachtung der menschlichen Würde etwa, den zunehmenden Verfall der Sitten und die wachsende Reglementierung des Denkens. Gehorsam werde durch neue Bibeln erzwungen: Marx und Engels schrieben sich ihr Kommunistisches Manifest, Hitler verfasste Mein Kampf und Darwin Die Entstehung der Arten. Francesca nickte verständnisvoll, was David dazu ermutigte, endlich auf das verborgene Wirken des Geheimzirkels einzugehen. Damit war das Fundament für eine dauerhafte Beziehung gelegt, die in den nächsten Tagen mit Rebekkas Hilfe noch vertieft wurde.
Die Gewinnung der Bibliothekarin für den Kampf gegen den Kreis der Dämmerung schien David regelrecht zu beflügeln und allmählich gewann er immer größere Sicherheit bei der Suche nach neuen »Brüdern« und »Schwestern«. Bis vor einigen Jahren hatte er den Wert seiner ungewöhnlichen Gaben nicht besonders hoch eingeschätzt und deshalb nur in geringerem Maße von ihnen Gebrauch gemacht, doch nun setzte er sie im Sinne seiner Bestimmung produktiv ein. Wenn er auf Menschen traf, die an wichtigen Knotenpunkten arbeiteten, wo Informationen zusammenliefen oder gesammelt wurden, dann ließ er, wie bei Francesca Alessandro, die Wahrheit zu ihnen sprechen. Ohne sie mit der gefährlichen Bürde sämtlicher Fakten zu belasten, vermittelte er ihnen ein wirklichkeitsgetreues Bild der Bedrohung, die von den geheimen Drahtziehern im Hintergrund, den Mitgliedern des Kreises der Dämmerung, ausging.
Gelegentlich begleitete ihn auch Rebekka auf seinen Streifzügen durch die Stadt. Ihr einnehmendes Wesen machte ihm so manchen Sturkopf gewogen, bevor noch seine Gabe ihre Wirkung voll entfalten konnte. Die Ergebnisse waren beachtlich. Als der Februar zu Ende ging, hatten sie bereits ein knappes Dutzend Gleichgesinnter gefunden. Da gab es den Geschichtslehrer Enrico Mazzini, die Krankenschwester Grazia Goldoni, den Uhrmacher Ignazio Pizzoferrato, sogar einen maresciallo der Carabinieri, einen Polizeiwachtmeister also, mit Namen Mario Abbado und noch etliche mehr. David wurde in Universitäten, Ämtern, in einem Zeitungsverlag, im Dom und sogar auf dem Cimitero Monumentale, dem – wie der Name schon sagt – monumentalen Friedhof der Stadt fündig.
Ohne die Gaben der Wahrhaftigkeit und Wahrheitsfindung wäre sein Unterfangen wohl schon bald gescheitert. Er musste das Interesse der Kandidaten mit wenigen Worten gewinnen, eine gemeinsame Handlungsbasis schaffen und durfte sich bei der Beurteilung ihrer Aufrichtigkeit keinen Fehler erlauben. Wenn er nur einem einzigen Denunzianten auf den Leim ging, war es um ihn geschehen – der Kreis der Dämmerung hatte überall seine Spione und Italien war ein von einem Diktator beherrschtes Land.
Benito Mussolini, der Duce del Fascismo – der »Führer des Faschismus« –, protzte gerne mit der ihm gegebenen Körperkraft. Mit Vorliebe ließ er sich beim Verbiegen von Hufeisen oder ähnlich widerspenstigen Gerätschaften fotografieren (sein Vater war übrigens Schmied). Ähnlich rücksichtslos ging er auch mit seinen Gegnern um. Schon vor dem »Marsch auf Rom«, der ihn 1922 an die Macht brachte, hatten seine berüchtigten Terrortruppen in Oberitalien für Angst und Schrecken gesorgt. Nun kam die O.V.R.A. die Geheimpolizei, hinzu. David glaubte nicht wirklich, dass ein an so exponierter Stelle agierender Mann wie Mussolini dem Kreis der Dämmerung angehörte – das hatten ihn die Erfahrungen der Vergangenheit gelehrt – , aber zumindest fragte er sich, welche gesellschaftlichen Mechanismen den Höhenflug dieses größenwahnsinnigen Volksschullehrers bedingt haben mochten.
Natürlich diskutierte er diesen Punkt auch mit Professor Leopardi und der gab wieder einmal eine verblüffende Antwort.
»Die Kirche steckt dahinter.«
»Ist das nicht etwas überzogen?«, fragte David. »Mag ja sein, dass auch hohe kirchliche Würdenträger den Duce anfangs gestützt haben, aber kann man dafür gleich den Vatikan als Ganzes verantwortlich machen? Schließlich hat Pius XI. mit seiner Neujahrsenzyklika Casti connubii sich doch jegliche Übergriffe des Staates auf die Erziehung der Jugend verbeten. Sicher hat er dabei an die Propaganda gedacht, mit der die Faschisten gerade junge Menschen zu ködern versuchen.«
Leopardi arbeitete seinen Zeigefinger in den Schnurrbart hinein, während er gleichzeitig den Kopf hin und her wiegte. »Alles gut und schön. Aber was ist mit den Lateranverträgen? Vor einem Jahr hat
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