Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Anmeldepflicht beim Rathaus in Erinnerung gerufen, einige Maßregeln aus der Hausordnung rezitiert, die im Wesentlichen das Lärmen von Kindern auf dem Flur und im Hof betrafen (der Verwalter hatte den Kronprinzen inzwischen als vollwertiges Mitglied der Familie akzeptiert). Endlich zog der Repräsentant des Eigentümers mit seinen Papieren zufrieden von dannen. Das Paar war allein (abgesehen von Benjamin Blumenthal). Rebekka belohnte ihren Mann für die treffliche Wahl mit einem dicken Kuss. Der Kleine stand dabei, den Kopf weit in den Nacken gelegt und verfolgte das Schauspiel mit offenem Mund.
Als das Paar wenig später ihr Leihkind in der Wohnung gegenüber abgab und sich als die neuen Nachbarn vorstellte, lernte es auch, bis auf den Vater, die übrigen Familienmitglieder kennen: Ester, eine kleine quirlige Frau, Sara, die Erstgeborene, und Tabita, fast ebenso klein wie Benjamin, aber mindestens doppelt so frech. Chaim, das Familienoberhaupt, sei noch im Laden, entschuldigte Ester die Abwesenheit ihres Mannes. Als Rebekka ihr gegenüber das Problem der fehlenden Möbel ansprach, winkte die gut gelaunte Nachbarin ab.
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Kindchen, das deichseln wir schon. Die Blumenthals sind eine große Sippschaft. Irgendwo in der Mischpoke treiben wir schon etwas Passendes für Sie auf.«
Esters Lachen machte Rebekka Mut. Sie lachte mit. David freute sich eher im Stillen. Allem Anschein nach war dies genau der richtige Ort, um Rebekka wieder zurück auf die Straße des Lebens zu führen.
Der Einzug in die neue Wohnung war für Samstag, den 17. Mai, geplant. Mehr als ein Taxi würden sie dazu nicht brauchen. David und Rebekka hatten ja nur ihre Koffer und Reisetaschen – ein Großteil ihrer Habe befand sich immer noch bei Professor Leopardi in Mailand. Kaum achtundvierzig Stunden später hatte Chaim Blumenthal bereits einen Tisch, vier Stühle und ein Bett »organisiert«. Genau dieses Wort benutzte Chaim, ein feingliedriger, unheimlich zerbrechlich wirkender Mann, der gar nicht danach aussah, als könne er seine drei sehr lebendigen Kinder in Schach halten. Er besaß einen kleinen Buchladen in der Richardstraße und war überaus belesen. Wenn man gerade kein Konversationslexikon zur Hand hatte, musste man nur Herrn Blumenthal fragen.
Der Tisch und zwei der Stühle stammten übrigens von Onkel Louis, erzählte Chaim bei der Übergabe derselben, wobei er den Namen des Verwandten überdeutlich betonte.
»Muss man ihn denn kennen?«, fragte David brav.
»Das will ich wohl meinen!«, antwortete Chaim dankbar. »Dr. Louis Blumenthal gehört zu den Gemeinderabbinern in der Neuen Synagoge, auf die wir sehr stolz sind.«
»Und anscheinend auch auf ihre Rabbiner.«
»Das versteht sich wohl von selbst. Onkel Louis ist zwar noch nicht so lange da wie Dr. Malvin Warschauer, der Synagogenvorsteher, der in diesem Jahr sein dreißigjähriges Amtsjubiläum begeht, aber bestimmt wird er ihn noch überholen.«
»Wieso, altert er denn schneller als normale Rabbiner?«
Chaim stutzte. Er kannte Davids Humor noch nicht. Mit einem Mal lachte er laut. »Sie gefallen mir, Herr Pratt! Ich meinte natürlich, wenn der ehrenwerte Rabbi Warschauer bald aus Altersgründen zurücktreten sollte. Onkel Louis ist vierzehn Jahre jünger als er, hat also im Vergleich mit dem dritten Gemeinderabbiner, dem verknöcherten Dr. Samson Weisse, beste Chancen.«
»Dann danke ich Ihnen umso mehr, Herr Blumenthal, dass ich in Zukunft meine Mahlzeiten auf den Stühlen eines so geachteten Mannes einnehmen darf.«
Chaim kniff misstrauisch das linke Auge zu. »Sie wollen sich doch nicht über die Möbel des Rabbi lustig machen?«
»Aber wo denken Sie hin! Das würde ich mir nie erlauben.«
»Na, dann ist es ja gut«, sagte Chaim und strahlte.
Als David und Rebekka Samstagmittag um Punkt zwölf mit Sack und Pack am Richardplatz eintrafen, erwarteten sie bereits zahlreiche neugierige Gesichter in den offen stehenden Fenstern. Alt wie Jung lehnte auf den Fensterbänken, atmete den Blütenduft und bestaunte die neuen Mieter. Viele lächelten oder nickten zur Begrüßung mit dem Kopf, einige winkten sogar, andere übten sich in abwartender Zurückhaltung. Eine einzelne Dame fortgeschrittenen Alters machte im dritten Stock ein griesgrämiges Gesicht. Vom östlichen Ende des Platzes her hieß das Stundengeläut der Bethlehemkirche die neuen Anwohner willkommen.
Chaim und Ester Blumenthal liefen sogleich auf die Straße hinaus,
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