Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
um Rebekka das Gepäck zu entwinden. Benni, Sara und Tabita versperrten ihnen den Weg. Ein älterer Mann gesellte sich hinzu, den Chaim als seinen Onkel Carl vorstellte. Als Beamter sei Onkel Carl zum Kofferschleppen nicht kräftig genug, scherzte Chaim, aber im Organisieren mache ihm so schnell keiner was vor. Ester lachte, der Onkel lächelte zurückhaltend und drückte David die Hand.
Das Taxi war noch nicht abgefahren, als zwei weitere Hausbewohner auf dem Gehweg erschienen, eine kleine, etwa vierzigjährige Frau mit Schürze und ihr untersetzter strohblonder Mann, die sich als Anneliese und Wolfgang Hermann vorstellten. Nur das Erstere sei sein Vorname, merkte Wolfgang augenzwinkernd an und verlangte von Chaim Wegezoll in Form einer Reisetasche.
»Ich glaube, wir werden uns hier wohl fühlen«, flüsterte Rebekka ihrem Mann ins Ohr, »Sie sind alle so nett.«
David küsste sie auf die Schläfe, ließ sich von Onkel Carl auch noch die letzte Tasche abnehmen und spazierte völlig unbeschwert in sein neues Domizil.
Bis zum Abend lernte das Paar auch die übrigen Hausbewohner kennen, Ester wusste zu den Namen auch die passenden Geschichten zu liefern. Den zweiten Stock teilten sich Horst Lotter und Richard Seybold, der eine Kommunist, der andere Sozialdemokrat, Laut Ester standen die beiden oft stundenlang auf dem Flur vor ihren Wohnungstüren und diskutierten lautstark die Vor- und Nachteile ihrer jeweiligen politischen Gesinnung.
Im ersten Stock, gegenüber von Onkel Carl, wohnte die Familie Hermann: Wolfgang, Anneliese, ihre Tochter Elisabeth sowie der Großvater Heinrich, Letzterer, ein Polizeioberwachtmeister im Ruhestand, steckte ständig mit Onkel Carl zusammen. Weil die Hermanns Bibelforscher waren, die Blumenthals jedoch Juden, ging den beiden Pensionären nie der Gesprächsstoff aus – was Horst und Richard im Politischen, das waren Heinrich und Carl im Religiösen.
Außerdem gab es da noch Frieda Joleite, das mürrische Gesicht im dritten Geschoss. Inzwischen weit über sechzig, trauerte sie angeblich einer unerfüllten Liebe nach, die sie schon zur Jahrhundertwende dem Ehestand für immer hatte abschwören lassen. Sie litt unter ihrer fast manischen Neugierde und einer strategisch ungünstigen Lage. Von der dritten Etage konnte sie zwar gut kontrollieren, wer das Gebäude betrat oder verließ, doch sobald sie sich vom Fenster entfernte, war sie vom Leben im Haus wie abgeschnitten. Zwar stand sie oft oben im weiten Treppenaufgang und schnüffelte – unbeweglich wie eine im Netz lauernde Spinne – den anderen Bewohnern hinterher, aber das schien sie nicht wirklich auszufüllen.
»Vor der Joleite würde ich mich in Acht nehmen«, riet Ester in einem ihrer seltenen ernsten Augenblicke. »Sie spioniert jedem hinterher, und wenn sie endlich mal was aufschnappt, dann erzählt sie es gleich brühwarm weiter. Der Joleite den Marsch zu blasen hat überhaupt keinen Sinn, die Frau dreht einem nur das Wort im Munde um.«
Frieda Joleites Dauerverdrossenheit nährte sich in nicht unerheblichem Maße auch aus dem Verhältnis zu ihrer Nachbarin. Unverhältnis wäre eigentlich das passendere Wort. Mia Kramer ignorierte die Joleite gründlich. Sie war die Witwe eines im Großen Krieg gefallenen Malers und lebte in stiller Abgeschiedenheit mit dessen surrealistischen Bildern und einer schneeweißen Katze. Auf der Straße ließ sie sich nur selten blicken. Dass es an der alten Frau aber auch gar nichts auszusetzen gab, brachte Frieda Joleite in schöner Regelmäßigkeit zur Weißglut. Die Hausspionin musste daher, um der Witwe wenigstens irgendetwas anhängen zu können, ihr verkümmertes Einbildungsvermögen bemühen. Und das war auch der Grund dafür, warum ihre Verdächtigungen und haarsträubenden Geschichten von den anderen immer sehr schnell als Unfug entlarvt werden konnten.
Abgesehen von der »Zecke im Dritten«, wie Onkel Carl die Joleite nannte, war das Haus am Richardplatz ein Ort, an dem man sich wohl fühlen konnte. Die übrigen Bewohner, so unterschiedlich sie waren, hatten sich zu einer guten Gemeinschaft zusammengefunden. Sie halfen sich mit Mehl oder einer Tasse Zucker aus, sprachen miteinander und bewunderten das Ehepaar Pratt. Den leibhaftigen Auslandskorrespondenten eines angesehenen amerikanischen Wochenblattes im eigenen Haus zu haben – darauf konnte man sich schon was einbilden. Im Grunde war David ja nur ein freier Mitarbeiter von Time, aber auf derartige Feinheiten nahm man am
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