Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
sich mit dem Fingerrücken den grauen Schnurrbart glatt. »Ich will auch gar nicht das Alter oder die Herkunft der Handschrift infrage stellen – da vertraue ich voll und ganz auf Antons Urteil –, aber was ihren Inhalt betrifft, habe ich so meine Zweifel. Fälschungen hat es auch schon in der Antike gegeben. Dieser Jason kann was weiß ich für Motive gehabt haben, um sich diesen Unsinn über Alexanders Tod auszudenken.«
David atmete innerlich auf. Wenigstens die Echtheit des Manuskriptes zweifelte der Wissenschaftler nicht an. Dass er mit Jasons Bericht nicht zurechtkam, war auch nicht verwunderlich, schließlich klang er ziemlich phantastisch. »Diese Formulierung hier«, David deutete auf die betreffende Zeile, »›ihn im Lichte der Tränen rufen…‹ – was könnte Jason damit gemeint haben?«
Andrae strich sich über den Schnurrbart. »Tränen sind im Altertum ein häufig gebrauchtes Motiv. Den Ägyptern nach entstand der Mensch aus den Tränen des Gottes Re. Und der griechischen Mythologie zufolge sind die Bernsteine aus den Tränen der Heliaden hervorgegangen.«
»Interessant. Waren das die Juweliere der Antike?«
Der Archäologe lächelte nachsichtig. »Nein, die trauernden Schwestern des von Zeus mit einem Blitz erschlagenen Phaeton.«
»Ein Blitz? Ist wohl ein bisschen weit hergeholt, darin das ›Licht der Tränen‹ zu vermuten, oder?«
»In den frühen Kulturen war alles mythisch verbrämt, selbst die normalsten Vorgänge des täglichen Lebens. Die Formulierung, die es Ihnen so angetan hat, kann also durchaus etwas mit dem strafenden Feuer des Göttervaters zu tun haben. Sie könnte aber auch Sinnbild für etwas viel Profaneres sein.«
»Wofür zum Beispiel?«
Andrae hob die Schultern. »Was weiß ich! Alles Mögliche.«
»Könnte die Metapher sich auf Glas beziehen?«
Der Ausgräber förderte aus seiner Hose ein großes kariertes Taschentuch zutage, nahm die runde Nickelbrille ab und fing an sie zu putzen. »Schon denkbar. Glas bildet nicht wie gefrierendes Wasser Kristalle aus. Es bleibt von seiner inneren Struktur her selbst im verfestigten Zustand gewissermaßen immer eine Flüssigkeit.«
»Womit wir wieder bei den sprichwörtlich fließenden Tränen wären«, murmelte David vor sich hin, um schließlich laut zu fragen: »Hat man zur Zeit Alexanders des Großen denn schon Glas gekannt?«
»Sie scherzen, Herr Pratt…« Andrae musterte seinen Gast eindringlich. »Oder vielleicht doch nicht. Ich vergesse gelegentlich, dass die Archäologen nur einen geringen Anteil der Erdbevölkerung stellen.« Er lächelte flüchtig und setzte die Brille wieder auf. »Als Alexander in Babylon starb, kannte man die Glasherstellung dort bereits seit mindestens tausend Jahren. Mein Kollege Flinders Petrie entdeckte 1894 eine Glashütte in der Gegend von Tell el-Amarna. Funde wie dieser belegen, dass die Ägypter und Mesopotamier schon im vierzehnten Jahrhundert vor Christus Glas herstellten.«
»Haben Sie solche gläsernen Relikte hier im Museum?«
»Und nicht zu knapp, Herr Pratt. Allerdings hauptsächlich römischen Ursprungs. Wenn die Ausstellung eröffnet ist, dürfen Sie sich gerne selbst davon überzeugen.«
»Gibt es Fundstücke in Tränenform?«
Andrae strich sich wieder über den Schnurrbart. »So auf die Schnelle fällt mir da nichts ein. Meines Wissens nach handelt es sich bei den meisten Exponaten um einfache kleine Gläser, eine Art dünnhalsiger Flaschen. Aber ob sich auch bauchige Formen, ›Tränen‹ gewissermaßen, darunter befinden, ließe sich natürlich in Erfahrung bringen.« Walter Andrae lächelte gequält. »Das wird allerdings Zeit kosten. Sie müssen wissen, dass wir in den Ausstellungsräumen nur einen geringen Teil des Bestandes der Öffentlichkeit zugänglich machen können, weil unsere Mittel leider begrenzt sind. Die Rekonstruktion des Ischtar-Tores und der babylonischen Prozessionsstraße haben wir nur mit einem Trick finanzieren können: Die Fassadenteile sind fest mit dem Museumsbau verbunden und deshalb konnten wir sie dem Topf für den Neubau zuschlagen. Aber in unseren Archiven schlummern noch hunderte von Fundstücken, die entweder auf ihre Restaurierung warten oder für deren Präsentation uns schlichtweg der Platz fehlt.«
Was den Altertumsforscher zu bekümmern schien, ließ in David neue Hoffnung keimen. Seine Rechte lag über dem Ring an der Halskette, als er sagte: »Könnten Sie für mich Ihre Bestände nach einer gläsernen ›Träne‹ oder einem
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