Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
»Tempel des Volkszornes« gemeinschaftlichen Selbstmord begangen. Hatte der Kreis der Dämmerung hier etwa schon das große Finale, die Selbstvernichtung der ganzen Menschheit geprobt?
David wiederholte nicht den Fehler vieler Sektengegner, die fremde religiöse Ausdrucksformen rundweg als gefährlich brandmarkten und die dazugehörigen Bewegungen am liebsten verboten hätten. Der neunhundertfache Selbstmord ging ihm aus anderen Gründen wochenlang nicht aus dem Sinn. Als sich die Aktien seiner Seelenbörse im Januar 1979 auf ein neues Allzeittief zubewegten, äußerte er endlich gegenüber Lorenzo seine Sorgen.
»Könnte Belial hier Ängste schüren, die zu einem neuen Massenschlachten führen?«
Die beiden Freunde saßen in der obersten Etage der Gelben Festung in Lorenzos Büro zusammen. Draußen war bereits die Nacht heraufgezogen. Vor den Fenstern funkelten die Lichter der Kaianlagen. Die Finger des ehemaligen Benediktiners spielten mit einem schwarzgoldenen Füllfederhalter, während er über die gestellte Frage nachdachte. Schließlich antwortete der belesene Greis auf eine für ihn typische Weise. Lorenzo sagte nicht einfach Ja oder Nein, sondern er verwies auf Sebastian Castellio, einen energischen Toleranzverfechter des sechzehnten Jahrhunderts. Auf die Frage, was denn ein Ketzer sei, habe Castellio geantwortet: »Ich kann nichts feststellen, außer dass wir alle die als Ketzer ansehen, die nicht mit unserer Meinung einig gehen… Gilt man in dieser Stadt oder Gegend als Anhänger des wahren Glaubens, so gilt man in der nächsten als Ketzer.«
»Das Fremde ist des Menschen ärgster Feind«, murmelte David kopfschüttelnd. »So gesehen sind wir fast überall Fremde und damit auch Feinde.«
»Nur weil sich heute kaum noch jemand der Richtigkeit seines Tuns und Handelns sicher ist, David. Wer in sich selbst ruht, fühlt sich nicht schnell bedroht. Aber die Ungewissheit gebiert Furcht, und die bringt den Hass hervor.«
»Das stimmt. Wir leben in einem Zeitalter des Skeptizismus. Schon in der Schule wird einem beigebracht, alles anzuzweifeln. Man wünscht sich Konsensfähigkeit, predigt aber die ›Tugend‹ der Kontroverse. Bei alldem scheint niemandem aufzufallen, dass man in seelischem Treibsand über kurz oder lang untergehen muss. Ich glaube, Lorenzo, Toleranz ist die Tugend des Menschen, der eine Überzeugung hat. Wenn ich mich in der Welt umsehe, fällt mir allenthalben das langsame Schwinden von Überzeugungen auf, egal ob es nun religiöse oder einfach ethisch-moralische sind. Die Eltern können oder wollen ihren Kindern keine Werte mehr vermitteln und so wächst eine zunehmend orientierungslose Generation heran. Und in der nächsten wird es noch schlimmer sein! Bei der Ausrufung des Jahrhundertplans hat Belial genau dieses Phänomen als eines seiner Ziele genannt. Könnte ein größeres Drama als das in Guayana – es war zwar tragisch, aber doch von der Wirkung her begrenzt – eine Kettenreaktion auslösen und zu einem Sturmlauf auf alle religiösen Menschen führen?«
»Hitler hat den Holocaust entfacht und dabei fast die ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen. Wenn beim nächsten Mal nicht die Juden, sondern Gläubige rund um den Globus stigmatisiert werden, wären die Folgen nicht auszudenken. Trotzdem glaube ich nicht, dass Gott es zum Äußersten kommen lassen würde.«
»Viele werfen ihm vor, schon zu lange gezögert zu haben.«
»Das ist verständlich für jemanden, der sich nicht mit seinen Gedankengängen beschäftigt. Allerdings finde ich es für ein Wesen, dessen Dasein nur ein Wimpernschlag im Strom der Zeit ist, auch ziemlich vermessen, dem Ewigen Vorschriften machen zu wollen.«
»Aber kennt er denn nicht unsere Unzulänglichkeit und die Zweifel, die uns manchmal plagen?«
»Oh doch, mein Lieber! Die kennt er sehr genau. Und er ist der Einzige, der alles Unrecht dieser Welt wieder gutmachen kann. Er wünscht sich allerdings, dass wir mit ihm zusammenarbeiten.«
»Ich versuche es ja, Lorenzo!«, stöhnte David. »Aber ehrlich gesagt, komme ich mir wie ein Krieger vor, der gegen Schatten kämpft: Wohin ich mein Schwert auch lenke, es trifft nie sein Ziel.«
In diesem Moment betrat Ruben die Bühne, wieder einmal in der Rolle des Überbringers mysteriöser Nachrichten und gerade so, als hätte Davids Ausruf ihm das Stichwort gegeben.
Auch an dem Maler war das Alter nicht spurlos vorübergegangen. Noch immer kümmerte er sich um Davids wichtigste Finanzgeschäfte, wenn auch
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