Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
sofort ihren Wert. Lorenzo, der ungeachtet seines hohen Alters allen neuen Gedanken gegenüber sehr aufgeschlossen war, stellte sofort Überlegungen zur Nutzung des modernen Mediums an.
»Du könntest mit deiner Nachrichtenagentur wieder einmal eine Pioniertat vollbringen. Wenn wir Bilder und Hintergrundberichte ins Netz stellen, stehen sie für Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen schon in der nächsten Sekunde an jedem Ort der Welt zum Abruf bereit.«
David grinste. »Nicht nur für die aktualitätssüchtigen Nachrichtenmacher, sondern auch für unsere Brüder. Ich habe mich erkundigt. Wir könnten neben den offiziellen Seiten auch geheime Kanäle einrichten, die den Nachrichtenaustausch innerhalb unserer Organisation drastisch beschleunigen würden.«
»Es könnte ihn aber auch anfälliger gegen die ›Lauscher‹ Belials machen.«
»Ohne Frage. Aber wenn wir unsere elektronische Korrespondenz per Computer verschlüsseln, sollten derlei ›Schwarzhörer‹, bildlich gesprochen, nichts als Rauschen auffangen. Ich habe Dee-Dee beauftragt, die technischen Voraussetzungen zu prüfen.«
Dee-Dee stand für »Doktor Dennis«. Der akademische Titel war ein Spitzname, eine Kreation Kim Tongs, die sehr viel Interesse für Dee-Dees Talente entwickelt hatte. Eigentlich hieß der junge Vietnamese Dennis Lee. Er und seine Familie gehörten zu den tausenden von Boatpeople, vietnamesischen Flüchtlingen, die über das offene Meer nach Hong Kong oder in andere Nachbarländer geflohen waren. Beinahe hätten die Lees das Schicksal vieler ihrer Landsleute geteilt und wären ertrunken. Glücklicherweise hatte die Besatzung der Cap Anamur sie entdeckt und aus dem Wasser gefischt. Jetzt studierte Dee-Dee am MIT Mathematik und verbrachte während der Semesterferien jede freie Minute auf der Nachrichtenfarm in Westport. David musste so manches Mal schmunzeln, wenn Kim Tong den Jungen umschlich wie die Katze das ahnungslose Vögelchen. Es dauerte dann auch nicht lange und ihre Krallen schlugen zu, allerdings sanft. Zwei Jahre später gingen die beiden den Bund fürs Leben ein. David übernahm die Rolle des Brautvaters.
In Rekordzeit bewerkstelligte »Doktor Dennis« mit Unterstützung dreier weiterer junger und äußerst talentierter Computerspezialisten den Vorstoß ins Internet. Davids Agentur erhielt den erhofften neuen Schub und bald war Truth ein Geheimtip unter den Nachrichtenbüros.
Ob Natur- oder Umweltkatastrophen, Kriege oder Epidemien – immer wenn eine globale Gefahr drohte, lieferte Truth Hintergrundinformationen und Bildmaterial. Niemand schien auch nur zu ahnen, dass dieses erfolgreiche Unternehmen nur ein trojanisches Pferd war, das einem einzigen Zweck diente: in die Geheimnisse von Belials Kreis der Dämmerung einzudringen.
Gleichwohl beschränkte David seine Kontakte zur weltweit verstreuten Bruderschaft nicht auf E-Mails oder hastige Gespräche über Mobiltelefone. Während Lorenzo und Ruben ihre Kräfte mittlerweile wie knapp gewordenes Lampenöl rationieren mussten, reiste David nach wie vor lieber in persona über den Globus, ungeachtet der damit verbundenen Strapazen. Es sei kein Altersstarrsinn, wenn er sich der Technik nicht völlig ausliefere, verteidigte er sich gegenüber Ruben, als es diesen doch einmal wieder nach Westport verschlagen hatte, sondern die schlichte Erkenntnis, dass ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht und der persönliche Eindruck, den man an Ort und Stelle gewinnen könne, durch nichts zu ersetzen sei.
Dieser Beweglichkeit verdankte er 1995 eine entscheidende Begegnung.
Die Welt war durch die großen Umbrüche des letzten Dekadenwechsels verändert worden. Ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer hatten sich die beiden Teile Deutschlands 1989 wiedervereinigt. Mit dem Rücktritt Gorbatschows im Jahr darauf endete die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion, Jelzin wurde erster Präsident Russlands. In Südafrika setzte das Apartheidsregime Nelson Mandela nach fünfundzwanzigjähriger Haft auf freien Fuß.
Lorenzo, inzwischen Mitte achtzig, zitierte wieder einmal aus der Bibel. »Wann immer sie sagen: ›Frieden und Sicherheit!‹, wird plötzliche Vernichtung sie überfallen und sie werden keinesfalls entrinnen.« Ob er damit auf Belials Jahrhundertplan anspielen wolle, fragte David, der die Äußerungen seines Freundes nie auf die leichte Schulter nahm. Der ehemalige Mönch lächelte weise und erwiderte: »Mit Prophezeiungen ist das so eine Sache: Meist weiß man
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