Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
erst hinterher, woran sie sich erfüllt haben.«
Und es verhielt sich wirklich so: Die Welt rief Friede, obwohl da weiterhin Mord und Totschlag war. Am 4. Juni 1989 hatte die chinesische Staatsführung auf dem Platz des Himmlischen Friedens ein Blutbad angerichtet. Ein Jahr später begann die Operation Desert Storni, die Antwort der internationalen Staatengemeinschaft auf Iraks Invasion in Kuwait. Bald schon entzündete der Nationalismus neue Feuer, in den einstigen Sowjetrepubliken wie auch im ehemaligen Jugoslawien. Als Kroatien und Slowenien 1991 ihre Unabhängigkeit erklärten, gab es im Herzen Europas zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder militärische Kampfhandlungen.
Während auf dem Balkan geschossen wurde, war David wieder einmal in Japan. Am 17. Januar 1995 hatte es in der Region von Kobe ein Erdbeben gegeben, dem über fünftausend Menschen zum Opfer gefallen waren, die schrecklichste Katastrophe dieser Art seit dem großen Beben von 1923. David interessierte sich aus verschiedenen Gründen dafür. Das Epizentrum des verheerenden Erdbebens war unter der Insel Awajishima in der Bucht von Osaka lokalisiert worden. Bislang hatte dieses Gebiet als vergleichsweise sicher gegolten. Verfügte Belial über die Macht, Naturgewalten für seine Zwecke zu missbrauchen?
Es war nicht mehr als ein Strohhalm, den David da ergriff Das gezielte Auslösen eines Erdbebens der Stärke sieben Komma zwei durfte als Möglichkeit wohl getrost ins Reich der Science-Fiction oder des Übernatürlichen verbannt werden. Außerdem konnten solche Erdstöße nicht die ganze Menschheit ausrotten. Auf der anderen Seite hatte es David längst aufgegeben, die Machenschaften Belials nach irdischen Maßstäben zu beurteilen. Der Schattenlord verfügte fraglos über eine gewaltige Macht. Vielleicht sollte ihm Kobe ja nur als Testfall für etwas Größeres, wesentlich Zerstörerisches dienen. Womöglich konnte er eine Kettenreaktion von Katastrophen auslösen und ein Beben der Kobe-Stärke war gewissermaßen nur der Zünder dafür. Oder seine Intentionen gingen in eine ganz andere Richtung.
Acht Wochen lang hielt sich David nun schon in seinem Geburtsland auf. In Japan, wo Erdbeben so alltäglich waren wie anderswo Regenschauer, gab es hervorragende Wissenschaftler, die sich ganz der Erforschung dieses Naturphänomens widmeten. Er sprach mit brillanten Forschern, die sich durch bestechende Theorien auszeichneten, mit hochrangigen Offiziellen, die einmütig ihre Vorsorgemaßnahmen als denkbar besten Schutz verkauften, und ebenso mit dem Mann und der Frau auf der Straße, die ihrem Unmut über die »Stümper da oben« Luft machten. Ganz nebenbei entstanden einige Artikel für Time, deren neuer Herausgeber – wie einst Henry Luce – so ziemlich alles von der Legende David Pratt abdruckte.
David ging es vor allem auch um die nicht mehr zu leugnenden Zusammenhänge zwischen Schäden an Leib und Leben durch so genannte Naturkatastrophen und menschliche Fehlleistungen, egal ob diese auf bedenkenloser Technikgläubigkeit, Habgier oder Ignoranz beruhten. Am Beispiel des Vulkanausbruchs in Kolumbien vom November 1985, der dreiundzwanzigtausend Menschen das Leben gekostet hatte, waren derartige Wechselbeziehungen besonders gut zu erkennen. Die Geologen hatten seinerzeit einen Ausbruch mit siebenundsechzigprozentiger Wahrscheinlichkeit vorausgesagt. Das war den Politikern zu ungenau, um die Evakuierung der Einwohnerschaft von Nevado del Ruiz anzuordnen. Menschenleben rangierten in der Werteskala immer weiter unten. War es nicht genau das, was Belial mit seinem Jahrhundertplan hatte bezwecken wollen?
Die Erforschung von Ursache und Wirkung, auch in solchen tragischen Katastrophen wie der von Kobe, gehörte zu Davids zahlreichen Bemühungen im verzweifelten Versuch den »großen Knaller« rechtzeitig zu erkennen und abzuwenden. Gerade wollte er mit seinen mageren Ergebnissen wieder nach Westport zurückkehren, als eine entsetzliche Nachricht ganz Japan erschütterte.
Es war der 20. März 1995, scheinbar ein ganz normaler Montagmorgen. Zu dieser Tageszeit konnte man nur mit Hilfe eines Schuhlöffels in einen Waggon der Tokyoter U-Bahn gelangen. In mehreren Zügen waren unauffällige Päckchen versteckt, aus denen plötzlich Sarin, ein heimtückisches Nervengas, hervorströmte. Die ahnungslosen Menschen begannen nach Luft zu schnappen, zu husten und zu würgen. Zwölf kamen bei dem Giftgasanschlag ums Leben, über fünftausend wurden
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