Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
lebte jetzt in ständiger Furcht vor Mordanschlägen seiner ehemaligen Glaubensbrüder. Sein unsteter Blick schien ständig nach versteckten Meuchlern Ausschau zu halten.
Ob nun eine Familie, ein Zierfischzüchterverein oder eine Sekte – jede Gemeinschaft hat ihre Regeln, und wenn ein Mensch aus einer derartigen Gruppe ausbricht, neigt er dazu, seine Entscheidung durch Angriffe auf die einstigen Bezugspersonen zu rechtfertigen. Deshalb brachte David Okazakis Bericht ein gesundes Maß an Skepsis entgegen, aber wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was der Aussteiger ihm erzählte, dann musste der halbblinde Sektenführer ein Unhold sondergleichen sein.
Kazuaki Okazaki hatte sich in eine dicke Wolldecke gehüllt, die schon Generationen von Motten als Nahrungsquelle gedient zu haben schien. An diesem Morgen blies ein ungewöhnlich frischer Wind durch die Ritzen und zersprungenen Fenster seiner jämmerlichen Hütte. Die beiden Männer saßen auf einer löchrigen Tatami. Zitternd gestand Okazaki, sechs Jahre zuvor an der Ermordung eines Rechtsanwalts samt Familie und eines ungehorsamen Sektenmitgliedes beteiligt gewesen zu sein. David spürte, dass der nervöse Mann nicht die volle Wahrheit sagte. Okazaki musste sogar maßgeblichen Anteil an den Bluttaten gehabt haben.
»Wer hat den Befehl zu den Tötungen gegeben?«, fragte der Wahrheitsfinder unerbittlich. Er hatte keine Sympathien für Mörder und besonders zuwider waren ihm religiöse Fanatiker.
»Shoku Asahara«, antwortete Okazaki leise und ohne David anzublicken. In seiner Decke sah er aus wie ein Häuflein Elend.
»Hat der Guru einen Ratgeber oder trifft er solche Entscheidungen allein?«
»Der Erleuchtete ruht in einem See der Weisheit. Er braucht keine Ratgeber.«
»Vielleicht hat er ja einen Vertrauten, mit dem er sein unerschöpfliches Wissen teilt.«
Diesmal zögerte Okazaki. Seine Augen bewegten sich unruhig hin und her, schienen mal die Löcher in der Reisstrohmatte, dann wieder die Runzeln in Davids Gesicht zu zählen. Schließlich hauchte er: »Es gibt da jemanden.«
Davids Rücken versteifte sich. »Kennen Sie den Namen dieser Person?«
Der Meuchler schüttelte den Kopf. »Ich selbst bin bloß ein kleines Licht und durfte selten vom Glanz des Erleuchteten trinken. Einmal nur habe ich den Fremden gesehen. Aber ein Freund, der zum inneren Kreis des Meisters gehörte und sich jetzt verborgen hält, hat mir von dem Mann erzählt.«
»Weshalb bezeichnen Sie ihn als Fremden? Er war doch einer Ihrer Brüder.«
»Aber kein Sohn Nippons. Nicht einmal Asiate.«
David hatte Mühe, gelassen zu bleiben. »Wie sah er aus?«
»So wie Sie.«
Im ersten Moment dachte David an Golizyn. Aber der Ukrainer konnte es nicht gewesen sein. Er war vor mehr als einem Dutzend Jahren zu Staub zerfallen. »Geht es nicht etwas genauer?«, fragte er streng.
Okazaki zuckte die Achseln. »Für mich sehen alle Gaijin gleich aus: lange Nasen, bleiche Haut… «
»Schon gut«, sagte David. Er hätte natürlich selbst daran denken können, dass viele Japaner europäisch geschnittene Gesichter ebenso wenig voneinander unterscheiden konnten, wie Menschen westlicher Herkunft Asiaten auseinander zu halten vermochten. Aus seiner Brieftasche förderte er zwei Fotokopien zutage und hielt sie Okazaki vor die Nase. »Ist der Vertraute des Gurus auf einer der beiden Zeichnungen abgebildet?«
Die weit aufgerissenen Augen des Japaners wechselten schnell zwischen den von Lorenzo gezeichneten Porträts hin und her. Dann deutete er auf das linke Bild. »Das da ist der Mann.«
Davids Herz setzte einen Moment lang aus. Langsam drehte er das Blatt zu sich herum. Es zeigte Lucius Kelippoth.
Eine Woche später stand David erneut vor Kazuaki Okazakis Bruchbude. Sie hatten dieses Treffen vereinbart, weil der Japaner seinen alten Freund und Asahara-Vertrauten besuchen und ihn nach dem jetzigen Namen Kelippoths fragen wollte. Der ehemalige Sektenangehörige sollte auch noch einige andere Erkundigungen für David einholen. Dessen Schweigen war der vereinbarte Preis für einen entscheidenden Hinweis zur Demaskierung des vorletzten noch lebenden Belial-Jüngers. David machte sich große Hoffnungen. Als sein Klopfen an der Tür der Kate jedoch unbeantwortet blieb, regte sich eine schreckliche Ahnung in ihm.
Die Hütte war unverschlossen. Vorsichtig bahnte sich David seinen Weg über Kleidungsstücke und andere Gegenstände hinweg, die in ähnlicher Unordnung schon vor sieben Tagen auf dem
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