Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
verletzt.
Die sich überschlagenden Berichte riefen in David dunkle Erinnerungen wach. Das Ereignis lag schon fast siebzehn Jahre zurück. Damals hatte sich der »Tempel des Volkszornes« aufgelöst, genauer gesagt, waren über neunhundert Mitglieder dieser Sekte im Dschungel von Guayana kollektiv in den Freitod gegangen. Warum der Gasanschlag ausgerechnet diese Assoziation weckte, das ahnte David zu jenem Zeitpunkt noch nicht, aber er änderte sofort seine Reisepläne.
Im Tross hunderter von Journalisten machte auch er sich auf die Spurensuche. Schon bald verdichteten sich seine Ahnungen zu einer schrecklichen Gewissheit: Das Sarin-Gas war von mehreren Mitgliedern der Sekte Aum Shinri Kyo in die U-Bahn-Waggons geschmuggelt worden. Die fanatische religiöse Gruppe wurde von einem halbblinden Guru befehligt, der sich Shoko Asahara nannte, aber eigentlich Chizuo Matsumoto hieß. Was David besonders aufmerken ließ, war neben dem Sektennamen – er stand für »Höchste Wahrheit« – das Motiv des beabsichtigten Massenmords: Asahara sagte den Weltuntergang für 1997 voraus und der Giftgasanschlag sollte die Prophezeiung untermauern.
Je mehr Einzelheiten über die in Kamikuishiki am Berg Fuji beheimatete Sekte bekannt wurden, desto mehr erschien sie für David als verkleinerte Ausgabe des Kreises der Dämmerung. Wie Belial hatte Asahara unfolgsame Anhänger umbringen lassen. Wie der Schattenlord predigte er die Reinigung des Menschengeschlechts durch Ausrottung desselben – nur seine Jünger sollten zu himmlischer Erleuchtung gelangen. Japan hielt er für geeignet, zu einer »unabhängigen Nation« aufzusteigen, durch die der Welt Erlösung zuteil werden sollte.
Im April und Mai kam es zu weiteren Anschlagsversuchen. Die Giftgaspäckchen wurden glücklicherweise rechtzeitig entdeckt, es gab keine Toten mehr. David musste sich einer deprimierenden Erkenntnis stellen: Lord Belials Philosophie war Allgemeingut geworden. Mangelndes Unrechtsbewusstsein, offene Gewaltbereitschaft, menschenverachtende Machtgier speisten sich aus einem rapiden Werte- und Sittenverfall – die kritische Masse schien erreicht zu sein. Shoku Asahara war vermutlich nur ein Beispiel, ein Menetekel an der Wand – zumindest für David. Das Raumschiff Erde mochte vielleicht überleben, aber seine Besatzungsmitglieder warteten nur auf eine Gelegenheit, sich gegenseitig auszulöschen.
Und trotzdem stimmte an den Giftgasanschlägen etwas nicht. David brauchte lange, um den Fehler in Shoko Asaharas ohnehin kruder Logik zu entdecken. Der Guru wollte den Weltuntergang einleiten, aber Sarin-Gas, so entsetzlich es in seiner Wirkung auch war, reichte dazu bei weitem nicht aus. Wie damals im Dschungel von Guayana schien sich Belial im Potenzial seiner Mittel geirrt zu haben – vorausgesetzt, die Aktion ging überhaupt auf das Konto des Geheimzirkels.
Noch auf einen anderen Widerspruch stieß David: Wie konnte Asahara der Welt durch Japan Erlösung bringen, wenn er ausgerechnet dieses Land mit seinen Anschlägen peinigte und andererseits ohnehin nur seine wenigen Jünger den Weltuntergang überleben würden? Durch seine Arbeit für den Club of Rome hatte David gelernt, in globalen Maßstäben zu denken. Der Super-GAU von Tschernobyl hatte bewiesen, welch weit reichende Folgen ein scheinbar lokal begrenzter Unglücksfall haben konnte. Immer wahrscheinlicher erschien David nun der Verdacht, dass Asaharas dämonische Intrige nur ein groß angelegtes Täuschungsmanöver war, das von einem noch viel teuflischeren Plan ablenken sollte.
Um seine Vermutungen entweder zu erhärten oder zu entkräften, reiste David nach Kamikuishiki. Von hier aus hatte Shoku Asahara seine ihm hörigen Jünger gelenkt. Im Schatten des Heiligen Berges Fuji holte David vorsichtig Erkundigungen über die Sekte Aum Shinri Kyo ein. Wie sich schnell herausstellte, war die »Höchste Wahrheit« keine Gruppe, die ihr Wissen gerne mit anderen teilte. Offenbar hatte der Guru ein eisernes Regiment geführt. Unter den Sektenangehörigen herrschte regelrechte Todesangst. Angeblich waren einige allzu redselige Mitgläubige bereits spurlos verschwunden.
Endlich gelang es David, ein ehemaliges Sektenmitglied aufzuspüren. Der Mann lebte in einem halb verfallenen Holzhaus am Rande Kamikuishikis. Er hieß Kazuaki Okazaki, war klein, übergewichtig und für japanische Verhältnisse erschreckend nachlässig gekleidet. Okazaki hatte der »Höchsten Wahrheit« fünf Jahre zuvor den Rücken gekehrt und
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