Der Kreis der Sechs
sich erholt hatte. »Besteht die Möglichkeit, dass sie sich einfach mit einem neuen Freund aus dem Staub gemacht hat?«
Val bedachte sie mit einem vernichtenden Blick, der nahelegte, dass Phoebe nicht das Geringste über »Kids in dem Alter« wusste.
»Natürlich ist alles möglich«, sagte Val trocken. »Doch laut Tom Stockton ist sie nicht die Sorte von Mädchen, die sich unerlaubt entfernt.«
»Ich nehme an, dass jemand Glenda angerufen hat«, sagte Phoebe und bezog sich auf Glenda Johns, die Präsidentin des Colleges.
»Natürlich. Das hier könnte sehr, sehr unschön werden.«
»Was meinen Sie?«, fragte Phoebe.
»Der Freund dieses Mädchens ist in diesem Frühjahr verschwunden. Er war Student im letzten Jahr, und er ging fort, ohne eine Spur zu hinterlassen.«
»Sind sie…«
»Entschuldigen Sie mich«, sagte Val abrupt. »Ich rede besser mit Tom und sehe, ob es etwas gibt, das ich für ihn tun kann.«
Es war mehr als eine Abfuhr. Es implizierte, dass Phoebes Hilfe nicht benötigt werden würde – niemals.
»Viel Glück«, sagte Phoebe mit gelassener Stimme. »Lassen Sie es mich wissen, falls ich etwas tun kann.«
Val war dabei, sich umzudrehen, blickte dann aber zurück und musterte Phoebes Outfit von oben bis unten. Das ist absurd, dachte Phoebe. Vals Kleidungsstil konnte man nur mit ›Hohepriesterin trifft Verführerin‹ beschreiben – jede Menge gecrashter Samt, klimpernde Armbänder und tiefe Halsausschnitte – und doch beäugte sie Phoebe immer, als würde ihr relativ klassischer Stil den Ansprüchen nicht genügen.
»Haben Sie heute Abend etwas Unterhaltsames vor?«, fragte Val in einem Ton, der andeutete, dass sie hoffte, die Antwort wäre Nein.
Phoebe war versucht, eine geistreiche Bemerkung zu machen, wie: »Tatsächlich habe ich ein heißes Date mit dem Kapitän des Männer-Lacrosse-Teams.« Doch das war genau die Art von Wellenschlagen, die sie vermeiden musste.
»Ich gehe nur einen Happen essen«, sagte sie stattdessen. »Gute Nacht.«
Phoebe wandte sich ab und ging weiter den Pfad entlang über den Collegeinnenhof und hielt sich wieder in östlicher Richtung. Lyle war nicht gerade ein schönes College. Alle Gebäude waren entweder aus unscheinbarem, rotem Backstein oder aus Beton, ohne dass auch nur eine Spur von Efeu an ihren Mauern emporwuchs. Doch es gab auf dem Campus Dutzende von großen Ahornbäumen, die gepflanzt worden waren, als die Schule in den 1950ern gebaut wurde, und nachts sahen sie, vom Mondlicht und den Straßenlaternen beleuchtet, majestätisch und beinahe magisch aus.
Während Phoebe den Pfad entlangeilte, dachte sie an das vermisste Mädchen. Sie dachte auch daran, welche Auswirkung die Situation haben würde, sowohl für das College, als auch für Glenda Johns, die nicht nur die Präsidentin, sondern außerdem Phoebes Freundin war. Vor zweieinhalb Jahre war Glenda vom Lyle College rekrutiert worden, um seinen glanzlosen Ruf und seine schwache Ausstattung zu verbessern, und obwohl sie Fortschritte gemacht hatte, war es schwer gewesen. Ein zweiter vermisster Student in einem Jahr würde da kaum hilfreich sein.
Vor dem Osttor wartet Phoebe darauf, dass die Ampel umschaltete, überquerte die Straße und ging dann drei Blocks den Bridge-Street-Hügel hinab zu Tony’s, einem kleinen italienischen Restaurant, das sie entdeckt hatte, nachdem sie im späten August in Lyle angekommen war. Es war eins von diesen aus der Zeit gefallenen Restaurants mit einem amateurhaften Wandgemälde von Venedig, staubbedeckten Plastikfarnen und Platten mit nach Knoblauch riechenden Scampi, aber Phoebe fand die kleinen, von Kerzen erhellten Räume entspannend.
Sie hatte bereits früher in der Woche bei Tony’s gegessen und hatte nicht vorgehabt, so bald wieder hier zu sein, aber ein Psychologieprofessor namens Duncan Shaw hatte sie mehr oder weniger in Zugzwang gebracht. Sie beide waren in einem improvisierten Komitee gelandet, und sie hatte sein Interesse an ihr von Anfang an gespürt. Vor mehreren Tagen hatte er – zu ihrer Bestürzung – gefragt, ob sie ihm und ein paar Freunden am Freitagabend beim Essen Gesellschaft leisten würde. Er war attraktiv, sah sogar ein wenig geheimnisvoll aus, mit seinem dunklen Bart und Schnauzer. Und auch einnehmend – umgänglich, ohne zu viel von sich preiszugeben – mit einem ironischen Sinn für Humor. Aber sie befand sich in einer selbst auferlegten Auszeit von allem, was romantisch war, also würde sie nicht so dumm sein und
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