Der Krieg am Ende der Welt
Höflichkeitsformen nun für erfüllt, sagen sie diesmal, was er wissen oder bestätigt haben will: wie lange sich der Zirkus hier aufgehaltenhat, wie sich die Bärtige, der Zwerg und der Idiot mit Wahrsagen, Geschichtenerzählen und Clownerien ihren Lebensunterhalt verdient haben, die verrückten Fragen des Ausländers über die Jagunços und wie eine Gruppe Capangas gekommen sei, um ihm das rote Haar abzuschneiden und die Leiche des Kindsmörders zu rauben. Nach der anderen Person, die weder zum Zirkus gehörte noch Ausländerin war, fragt er nicht, und sie erwähnen sie nicht. Doch als anwesende Abwesenheit geistert sie durch das Gespräch, sooft einer berichtet, wie der Ausländer gepflegt und ernährt worden ist. Wissen sie, daß dieser Schatten Rufinos Frau ist? Sicher wissen oder erraten sie es, wie sie auch wissen oder erraten, was gesagt werden darf und was verschwiegen werden muß. Wie zufällig, am Ende des Gesprächs, läßt sich Rufino sagen, in welche Richtung die Zirkusleute fortgezogen sind. Er schläft im Laden auf einer Pritsche, die ihm der Besitzer anbietet, und nimmt am Morgen seinen methodischen Trab wieder auf.
Ohne das Tempo zu beschleunigen oder zu verlangsamen, durchquert Rufinos Silhouette eine Landschaft, in der sein Körper, erst hinter ihm, dann vor ihm, den einzigen Schatten wirft. Das Gesicht angespannt, die Augen halb zugekniffen, geht er unbeirrt seinen Weg, obwohl der Wind die Spur streckenweise verwischt hat. Es dunkelt, als er zu einer Hütte oberhalb eines Feldes kommt. Der Bauer, seine Frau und halbnackte Kinder empfangen ihn herzlich. Er ißt und trinkt mit ihnen, berichtet ihnen von Queimadas, Ipupiará und anderen Ortschaften. Sie sprechen über den Krieg und die Angst, die er hervorruft, über die Pilger, die nach Canudos ziehen, sie philosophieren über die Möglichkeiten des Weltuntergangs. Erst danach fragt sie Rufino nach dem Zirkus und dem Ausländer ohne Haar. Ja, sie sind hier durchgekommen und in die Serra Olhos D’Agua weitergezogen, auf Monte Santo zu. Die Frau erinnert sich vor allem an den mageren, unbehaarten Mann mit den gelben Augen, der sich wie ein Tier ohne Knochen bewegte und grundlos in Lachen ausbrach. Das Paar tritt Rufino eine Hängematte ab, und am Morgen füllen sie ihm seinen Proviantsack, ohne ein Entgelt dafür zu nehmen.
Einen guten Teil des Tages trabt Rufino, ohne einen Menschenzu sehen, durch eine Landschaft mit Büschen, in denen Schwärme von Papageien krächzen. An diesem Abend stößt er mehrmals auf Ziegenhirten, mit einigen unterhält er sich. Kurz nach Sítio das Flores – ein Name, der sich wie Hohn und Spott anhört, denn da sind nur Steine und ausgetrocknete Erde – biegt er ab zu einem aus Baumstämmen errichteten Kreuz, das mit Votivbildern, holzgeschnitzten Figürchen, eingezäunt ist. Eine Frau ohne Beine, am Boden liegend wie eine Kobra, wacht am Kalvarienberg. Rufino kniet nieder, die Frau schlägt das Kreuz über ihm. Der Spurenleser gibt ihr etwas zu essen, sie unterhalten sich. Sie weiß nicht, wer sie sind, hat sie nicht gesehen. Ehe er geht, entzündet Rufino eine Kerze und verneigt sich vor dem Kreuz.
Drei Tage verliert er die Spur. Er fragt Bauern und Viehtreiber und vermutet, daß der Zirkus, statt nach Monte Santo zu gehen, abgezweigt oder umgekehrt ist. Vielleicht auf der Suche nach einem Markt, damit sie zu essen bekommen. Mehrmals umgeht er in immer weiteren Kreisen Sítio das Flores und erkundigt sich bei jedem, den er trifft. Hat jemand eine Frau mit behaartem Gesicht gesehen? Einen fünf Handbreit großen Zwerg? Einen Idioten mit einem weichen Körper? Einen Ausländer mit rötlichem Flaum auf dem Kopf, der eine schwer verständliche Sprache spricht? Die Antwort lautet immer nein. In seinen Gelegenheitsunterkünften stellt er Vermutungen an. Und wenn er schon getötet worden oder an seinen Wunden gestorben ist? Er geht nach Tanquinho hinunter und wieder hinauf, ohne die Spur zu finden. Eines Abends, als er sich erschöpft schlafengelegt hat, kommen bewaffnete Männer zu ihm, heimlich wie Gespenster. Eine Sandale auf seiner Brust weckt ihn. Er sieht, daß die Männer, außer Karabinern, Macheten, Holzpfeifen, Jagdmesser und Kugelketten haben, und daß sie keine Banditen sind, jedenfalls nicht mehr. Nur mit Mühe kann er sie davon überzeugen, daß er kein Spurenleser des Heeres ist, daß er seit Queimadas nicht einen Soldaten gesehen hat. Der Krieg interessiert ihn so wenig, daß sie glauben, er lügt, und
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