Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
sagte er fieberhaft, voll Empörung. »Sieh dir diese Frauen an. Sie waren jung, stark, hübsch. Wer hat das aus ihnen gemacht? Gott? Die Kanaillen, die Schurken, die Reichen, die Gesunden, die Egoisten, die Mächtigen.«
    Exaltiert, in plötzlich aufflammender Begeisterung ließ er Juremas Arm los und trat in die Mitte des Kreises, ohne auch nur zu merken, daß eben der Zwerg angefangen hatte, die einzigartige Geschichte der Prinzessin Magelone, Tochter des Königs von Neapel, zu erzählen. Die Zuschauer sahen, wie der Mann mit dem rötlichen Haar und Bart, den zerschlissenen Hosen und der Narbe am Hals zu agieren begann:
    »Verliert den Mut nicht, Brüder, erliegt nicht der Verzweiflung. Nicht weil ein Trugbild über den Wolken es so beschlossen hat, verfault ihr hier lebendigen Leibes. Ihr seid hier, weil ihr nichts zu essen habt, weil euch Ärzte und Medikamente fehlen, weil sich niemand um euch kümmert, weil ihr arm seid. Eure Leiden heißen Ungerechtigkeit, Mißbrauch, Ausbeutung. Ihr sollt euch nicht damit abfinden, Brüder. Empört euch aus den Tiefen eures Unglücks, wie eure Brüder in Canudos. Besetzt die Güter, die Häuser, nehmt euch den Reichtum derer, die euch eure Jugend genommen haben, eure Gesundheit, euer Menschsein ...«
    Die Bärtige ließ ihn nicht weiterreden. Rot vor Zorn, schüttelte sie ihn und fuhr ihn an:
    »Du Narr du! Keiner versteht dich! Du machst sie nur traurig, du langweilst sie, sie werden uns nichts zu essen geben! Betaste ihnen die Köpfe, sag ihnen die Zukunft voraus, heitere sie auf! Tu irgend etwas, das sie aufmuntert.«Der Beatinho hörte den Hahn krähen. Er hatte die Augen noch geschlossen und dachte: Gelobt sei der gute Jesus. Ohne sich zu bewegen, betete er und bat den Vater um Kraft für den Tag. Sein kleiner, schmächtiger Körper ertrug die angespannte Tätigkeit schlecht; bei dem wachsenden Zustrom an Pilgern in den letzten Tagen hatte er manchmal Schwindelanfälle gehabt. Nachts, wenn er sich hinter dem Altar der Kapelle Santo Antônio auf seinen Strohsack legte, ließ ihn der Schmerz in Gliedern und Muskeln nicht zur Ruhe kommen, und manchmal lag er stundenlang mit zusammengebissenen Zähnen, ehe der Schlaf ihn von dieser heimlichen Folter befreite. Denn obgleich körperlich schwach, hatte der Beatinho doch so viel geistige Kraft, daß niemand in dieser Stadt, in der er nach dem Ratgeber die höchsten geistlichen Funktionen ausübte, die Hinfälligkeit seines Fleisches bemerkte.
    Er schlug die Augen auf. Der Hahn krähte abermals, und Morgenlicht sickerte durch das Dachfenster. Er hatte in dem Gewand geschlafen, das Maria Quadrado und die frommen Frauen des Heiligen Chors unzählige Male geflickt hatten. Er zog seine Hanfschuhe an, küßte das Skapulier, das er auf der Brust trug, und band sich den schwarz gewordenen Büßergürtel um, den der Ratgeber ihm abgetreten hatte, damals in Pombal, als er noch ein Kind war. Er rollte den Strohsack zusammen und ging den Schlüsselträger und Kirchenverwalter wecken, der am Eingang der Kirche schlief. Es war ein alter Mann aus Chorrochó; als er die Augen aufschlug, murmelte er: »Gelobt sei unser Herr Jesus Christus.« »Gelobt sei er«, erwiderte der Beatinho. Er reichte ihm die Geißel, mit der er jeden Morgen dem Vater das Schmerzopfer darbrachte. Der Alte nahm sie – der Beatinho war niedergekniet – und gab ihm, mit der ganzen Kraft seines Armes, zehn Schläge auf Rücken und Gesäß. Danach bekreuzigten sie sich abermals. So begannen sie ihr Tagewerk.
    Während der Schlüsselträger den Altar säuberte, ging der Beatinho zur Tür und hörte schon die Pilger, die nachts in Belo Monte angekommen waren und von Männern der Katholischen Wachmannschaft beaufsichtigt wurden, bis er entschied, ob sie bleiben konnten oder unwürdig waren. Die Angst, sich zu täuschen, womöglich einen guten Christen abzuweisen odereinen Pilger anzunehmen, dessen Anwesenheit dem Ratgeber schaden konnte, zerriß ihm das Herz, war das, wogegen er den Vater am inständigsten um Hilfe bat. Er öffnete die Tür und hörte Gemurmel und sah die Dutzende von Menschen, die vor dem Portal kampierten. Dazwischen die Mitglieder der Katholischen Wachmannschaft, mit blauen Armbinden und Karabinern, die im Chor sagten: »Gelobt sei der gute Jesus.« »Gelobt sei er«, murmelte der Beatinho. Die Pilger bekreuzigten sich, wer nicht verkrüppelt oder krank war, kniete nieder. Aus ihren Augen sprach Hunger und Glück. Der Beatinho zählte mindestens

Weitere Kostenlose Bücher